Ein Gentleman wagt - und gewinnt
Gefühle ebenso zu zügeln wie den temperamentvollen Hengst.
Ja, eindeutig – trotz allem hatte Abbie eine gewisse Zuneigung für ihn entwickelt. Das bewies ihm nicht nur der zarte Kuss, sondern auch ihre wachsende Sorge um sein Wohl in diesen letzten Tagen. So erstaunlich es anmuten mochte, sie sah ihn in ganz neuem Licht. Und – weit wichtiger – sie hatte Vertrauen zu ihm gefasst. Das war viel, aber es genügte ihm nicht. Nicht einmal annähernd … Dennoch musste er sich mit der bedrückenden Möglichkeit abfinden, dass eine aufrichtige Freundschaft vielleicht alles war, was sie ihm jemals bieten würde. Kommt Zeit, kommt Rat, versuchte er sich zu beruhigen.
Unglücklicherweise drängte die Zeit. Abbie würde abreisen, und er musste sie gehen lassen, obwohl er fürchtete, die geliebte Frau an einen anderen zu verlieren. Doch er kam nicht umhin, dieses Risiko einzugehen, denn keinesfalls durfte er sie bitten, in Cavanagh Court zu bleiben, und sie in Gefahr bringen. Er konnte nichts weiter tun, als ein baldiges Wiedersehen zu planen. Und bis dahin würde er den oder die Schurken entlarven, die ihm das Leben zur Hölle machten. Von seinem Entschluss beflügelt, gab er Samson die Sporen.
Als Barton kurz darauf Wetherbys Unterkunft in der Stadt betrat, erfuhr er, dass der Offizier sein Quartier verlassen habe, um Lord Warren zu besuchen.
Und so führte ihn sein nächster Weg nach Warren Hall, wo er den Major in der gut bestückten Bibliothek antraf. Ein Glas Portwein in der Hand, unterhielt er sich mit dem Hausherrn. Nachdem Lord Warren seinem zweiten Besucher einen Platz angeboten und ihn mit einem Drink versorgt hatte, zog er sich taktvoll zurück, denn seinem Eindruck nach wünschte Barton den Mann unter vier Augen zu sprechen.
“Ihr Besuch kommt außerordentlich gelegen, Cavanagh”, gestand Wetherby. “Damit ersparen Sie mir einen Ritt zu Ihrem Landsitz. Allzu lange werden meine Männer diese Gegend nicht mehr sichern. Wir haben Order erhalten, Anfang nächster Woche abzurücken.”
Die Information überraschte Barton nicht sehr. “Wenn das so ist, bin ich froh, dass ich Sie hier treffe, denn ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu klären. Können Sie sich an die Zeit vor vier Jahren erinnern, als Sie Ihren Kriegsdienst in Spanien antraten? Sie waren damals gerade zum Profoss ernannt worden.”
“Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie mich nicht sonderlich geschätzt und Ihre Meinung auch freimütig geäußert.” Wetherbys volle Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. “Und ich glaube, Sie sprachen sich energisch gegen die Art und Weise aus, wie mit den Soldaten verfahren wurde, die unsere Verbündeten bestahlen.”
“Ja, das stimmt”, bestätigte Barton, ohne dem sarkastischen Blick des Majors auszuweichen. “Ich fand es übertrieben, einen Mann zu hängen, nur weil er sich des Hühnerdiebstahls schuldig gemacht hatte. Aber während meiner Kriegsjahre lernte ich jemanden kennen, dem ich zu gern die Schlinge um den Hals gelegt hätte.”
Nun hatte er Wetherbys ungeteilte Aufmerksamkeit. Barton stand auf und trat ans Fenster. Es fiel ihm nicht schwer, die unangenehmen Bilder aus der Vergangenheit heraufzubeschwören.
“Wie Miss Graham mir erzählte, gehen Sie davon aus, dass eine Person, die sich an mir rächen will, für die Anschläge gegen mein Eigentum und mich selbst verantwortlich ist.”
“Das erwähnte ich schon, als wir vor zwei Wochen bei den Warrens dinierten. Es ergaben sich seither keinerlei Anhaltspunkte, die meine Ansicht geändert hätten. Indes kann ich Ihnen eines versichern, Cavanagh – ich bin niemandem begegnet, der Ihnen feindselig gesinnt wäre. Ganz im Gegenteil.”
Barton wandte sich um und schenkte dem Major ein schmerzliches Lächeln. “Da sich der Grund Ihres Aufenthalts in dieser Region längst herumgesprochen hat, würde nur ein Narr in Ihrer Gegenwart ein böses Wort über mich verlieren.”
“Natürlich, da haben Sie recht. Sie pflegen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. So habe ich Sie in Spanien kennengelernt, und seither haben Sie sich gewiss kaum geändert. Deshalb wäre es durchaus denkbar, dass Sie jemanden beleidigt haben, nachdem Sie aus der Armee ausgetreten sind. Wie auch immer – von den anderen Offizieren wurden Sie stets respektiert, ebenso von den Soldaten unter Ihrem Kommando.”
“Im Großen und Ganzen, ja. Mit einer Ausnahme.” Barton starrte wieder aus dem Fenster. “Nach meiner Beförderung zum Major wurde mir eine
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