Ein Gentleman wagt - und gewinnt
stürmen. Mit einiger Mühe zügelte sie ihren Zorn. Aber es dauerte eine Weile, bis sie den Blick von der Ursache ihrer Entrüstung losreißen konnte und ihr die Stimme wieder gehorchte. “Kennst du den Gentleman, der gerade mit unserer Gastgeberin spricht?”
Lady Penrose spähte erneut zur Tür hinüber. “Nein. Weißt du, wer er ist?”
Aufgrund der prompten Entgegnung war Abbie sicher, dass Ihre Ladyschaft die Wahrheit sagte, und verwarf den Verdacht, die Tante könnte in Colonel Augustus Grahams infamen Machenschaften die Rolle einer Komplizin spielen. “Ja, allerdings”, gab sie zu und beobachtete, wie der Gegenstand ihres Unmuts seine beiden Begleiterinnen zu einem rotblonden Gentleman geleitete, der ihm fröhlich zugewunken hatte.
“Das ist niemand anderer als der Patensohn meines Großvaters, den ich unbedingt heiraten soll.”
Nun musterte Lady Penrose den Mann etwas genauer und registrierte den geschmeidigen Gang, die breiten Schultern, das aristokratische Profil. “Und dein Wunsch ist es nicht, Liebes?”, fragte sie leise und betrachtete verblüfft den entschlossenen Ausdruck, den Abigails fein gezeichnete Züge annahmen.
“Eher würde die Sonne im Westen aufgehen, bevor ich mich bereit erkläre, Barton Cavanagh zu ehelichen.”
Nach einem kurzen Schweigen nickte Ihre Ladyschaft. “Oh – ich verstehe …”
Ihre gemurmelten Worte bewogen Abigail zu einem ironischen Lächeln. “Und ich beginne zu verstehen, warum Großvater so großen Wert darauf legte, mich ausgerechnet jetzt nach Bath zu schicken. Offenbar wusste er, dass Cavanagh sich hier aufhält, und er erwartet natürlich, dass wir uns über den Weg laufen.”
In Lady Penroses Augen erlosch der sanfte Glanz, der sie normalerweise erhellte. “Hoffentlich glaubst du nicht, der Colonel hätte mich ins Vertrauen gezogen und über seine tückischen Absichten informiert.”
“Oh nein”, versicherte Abbie. “Indes musst du meine unerfreuliche Situation begreifen … Leider werde ich eine Begegnung mit Cavanagh nicht vermeiden können.”
“Und deshalb möchtest du gehen, nehme ich an”, erwiderte Lady Penrose, ohne zu protestieren. Sie wollte einen Lakaien zu sich winken und ihre Kutsche vorfahren lassen. Doch da spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, die sie zurückhielt.
Wann immer Abigail später an diesen Abend zurückdenken sollte, erkannte sie unweigerlich, dass ihre Entscheidung – innerhalb eines Sekundenbruchteils getroffen – ihre Zukunft bestimmt hatte. Zum Glück wusste sie in diesem Moment nichts davon … Zu sehr erfüllte sie ein Gefühl tiefer Scham.
Lady Penrose mochte vermuten, dass ihre Patentochter nur den Wunsch hatte, die Gesellschaft zu verlassen, Abbie hingegen wäre am liebsten aus der Stadt geflohen. Aber das würde sie nicht tun. Nein, sie durfte nicht wie ein verängstigtes Kind weglaufen, weder aus diesem Haus noch aus Bath. Und sie würde ihrem Großvater nicht länger erlauben, ihr Vorschriften zu machen.
“Bemüh dich nicht, Tante, ich möchte hierbleiben. Mr. Cavanaghs Anwesenheit wird mein Verhalten nicht beeinflussen. Seinetwegen will ich ganz sicher nicht auf all die Vergnügungen verzichten, die Bath zu bieten hat.”
“So ist’s recht, Kindchen.” Lady Penrose seufzte erleichtert und strahlte vor Freude. Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn. “Meinst du, dein Großvater hat seinem Patensohn mitgeteilt, dass du hier anzutreffen bist? Und dass Mr. Cavanagh sich lediglich deshalb hierherbegeben hat?”
Bisher hatte Abbie diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen. “Das kann ich nicht sagen. Ich nehme jedoch an, Großvater hat von Bartons Absicht, nach Bath zu reisen, gewusst. Aus diesem Grund schrieb er dir. Sechs Jahre lang habe ich diesen Mann nicht gesehen – das letzte Mal bei seinem Besuch in Foxhunter Grange, kurz vor seinem Eintritt in die Armee. Wir haben niemals korrespondiert. Indes bekam Großvater hin und wieder einen Brief von ihm.”
Gedankenverloren schwieg Lady Penrose und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf Mr. Cavanagh. Dabei gelangte sie zu der Überzeugung, dass der Gentleman nicht den Eindruck erweckte, an einer Begegnung mit der Enkelin seines Patenonkels interessiert zu sein. Zumindest schien er nicht nach ihr Ausschau zu halten. Schließlich richtete sie das Wort an Abigail. “Natürlich hätte er dich während seines Kriegsdienstes nur selten treffen können. Doch es gab nichts, was ihn gehindert hätte, dir zu schreiben. Vielleicht hat sich
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