Ein Gentleman wagt - und gewinnt
verwirrend.
“In Ihrem Alter haben Sie sicher schon viele Saisons genossen, Miss Graham”, meinte Kitty, als Abbie neben ihr stand. Höflich hatte sie Mrs. Cavanagh ihren Stuhl angeboten.
“Damit deutest du an, Miss Graham stünde kurz vor der Letzten Ölung, du freches kleines Ding”, schimpfte ihr Bruder und handelte sich einen vernichtenden Blick aus Kittys dunklen Augen ein, die seinen glichen. “Wann wirst du endlich lernen, deine dreiste Zunge zu hüten?” Zu Abbie gewandt, die ihren Lachreiz nur mühsam bezähmte, fuhr er fort: “Darf ich mich im Namen meiner taktlosen Schwester entschuldigen? Leider gehört es zu ihren zahlreichen Fehlern, erst zu reden und dann zu denken.”
“Natürlich wollte ich Miss Graham nicht beleidigen”, verteidigte sich Kitty. “Ich finde sie sehr hübsch. Gefällt sie dir auch, Barton?”
Nun wusste Abigail nicht mehr, wohin sie schauen sollte. Sie spürte, wie heiße Röte in ihre Wangen stieg, und fürchtete, ihre Verlegenheit würde den Gentleman an ihrer Seite belustigen.
“Sogar sehr.” Seine Mundwinkel zuckten. “Doch das dachte ich schon immer.” Lächelnd schaute er in Abigails blauviolette Augen, die ihn teils misstrauisch, teils erstaunt musterten. “Und wie ich mich entsinne, waren Miss Grahams Manieren stets über jeden Tadel erhaben. Was für
dich
bedauerlicherweise nicht gilt.”
Mühsam riss sich Abigail zusammen und beschloss einzugreifen, bevor Miss Cavanagh von ihrem strengen Bruder zu grausam gemaßregelt wurde. “Zu meinem Leidwesen durfte ich keine einzige Saison in der Hauptstadt genießen, Miss Cavanagh. Jetzt habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit den Landsitz meines Großvaters verlassen.”
“War das Ihr Wunsch, Miss Graham?”, erkundigte sich Barton.
Seine unverblümte Frage irritierte Abigail. Was sollte sie darauf antworten?
Gewiss, ihr Großvater hatte sie niemals zu längeren Reisen oder intensiveren gesellschaftlichen Kontakten ermutigt – vor lauter Angst, sie würde einem Gentleman begegnen, mit dem sie sich womöglich vermählen wollte. Natürlich durfte sie Barton nicht erzählen, der Colonel habe sie von jungen Männern ferngehalten, weil er wollte, dass sie mit seinem Patensohn vor den Traualtar trat.
Eine solche Bemerkung konnte Barton nur missverstehen. Womöglich glaubte er dann, sie würde bereuen, dass sie ihn vor sechs Jahren abgewiesen hatte, und einen neuerlichen Heiratsantrag erhoffen.
“Nun, ich war stets zufrieden, Sir.” Da sie seine Skepsis spürte, bekräftigte sie: “Und da ich den Ehestand niemals erstrebenswert fand, wäre eine kostspielige Londoner Saison sinnlos gewesen. Jetzt, wo die erste Jugendblüte hinter mir liegt, werde ich wohl kaum das Interesse irgendwelcher an Heirat interessierter Junggesellen erregen. Deshalb genieße ich den Aufenthalt in Bath, ohne unwillkommene Bewerber abwehren zu müssen.”
“Wenn Sie das ernst meinen, sind Sie nicht ganz richtig im Kopf, Miss Graham”, entgegnete Barton unverblümt.
Sein sichtlicher Ärger überraschte Abigail ebenso wie seine Schwester. Nachdenklich starrte Kitty ihn an, bevor sie sich wieder zu Abbie wandte, um das Wort an sie zu richten. Aber was immer sie sagen wollte – sie fand es offenbar ratsam, es für sich zu behalten.
Glücklicherweise musste Abigail die forschenden Blicke der Geschwister nicht mehr allzu lange ertragen, denn Mrs. Cavanagh holte ihre Tochter ab, um sich mit ihr unter die anderen Gäste zu mischen.
Zu Abbies Erleichterung blieb Barton nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen, und von da an konnte sie die Soiree unbeschwert genießen.
Am nächsten Morgen frühstückte sie mit ihrer Patentante. Wieder einmal zürnte sie ihrem Großvater, der vor keiner Hinterhältigkeit zurückschreckte, um sein Ziel schließlich doch zu erreichen. Allerdings durfte sie Barton Cavanagh keine Mitschuld an dieser Intrige geben. Sie mochte ihn noch so sehr verachten – und sie bezweifelte, dass dies jemals anders würde –, gleichwohl musste sie ihm zugutehalten, dass er sich nicht verstellen konnte. Zweifellos war seine Verblüffung über das Wiedersehen auf Agnes Fergussons Gesellschaft echt gewesen. Außerdem hatte sein Verhalten nicht den Eindruck erweckt, dass er den Wunsch seines Patenonkels zu erfüllen suchte. Kein einziges Mal hatte er sie zum Tanz aufgefordert.
Während Lady Penrose ihr drittes gebuttertes Brötchen verzehrte, warf sie ihrer schweigsamen Tischgenossin einen verstohlenen Blick zu. Obwohl
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