Ein Gentleman wagt - und gewinnt
entgangen.
Zu ihrer Erleichterung musste sie den forschenden Blick aus Miss Felchams dunklen Augen nicht mehr allzu lange ertragen. Wenige Minuten später hielt die Kutsche vor einem stattlichen Haus am Upper Camden Place. Eine ältere Haushälterin empfing sie und führte sie zu einem eleganten Salon im ersten Stock.
Eine Bonbonniere in der Hand, wandte sich die Hausherrin um, als die Tür aufging. Erfreut setzte sie das Gefäß ab und eilte ihrem Gast trotz ihrer rundlichen Figur erstaunlich schnell entgegen.
“Lass dich anschauen!”, rief Lady Penrose, nachdem sie Abigail zärtlich umarmt hatte. Aufmerksam musterte sie das lächelnde Gesicht unter dem schlichten altmodischen Hut. “Ja, du bist es! Überall hätte ich dich erkannt.”
Abigail, die eine so liebevolle Zuwendung jahrelang entbehrt hatte, war gerührt über den freundlichen Empfang und gleichzeitig ein wenig verlegen. Im Grunde stand eine völlig fremde Frau vor ihr.
“Vielen Dank für die Einladung, Tante Henrietta.” Sie ließ sich zu einem Sessel führen und nahm Platz, nachdem Lady Penrose wieder in die Sofapolster gesunken war. “Morgen werde ich anfangen, die Stadt zu erforschen. Darauf freue ich mich schon sehr.”
“Ich hoffe, du wirst die Zerstreuungen genießen, die Bath zu bieten hat.” Kritisch inspizierte Lady Penrose die unscheinbare Kleidung ihres Patenkinds. “Was das betrifft, können wir natürlich nicht mit der Hauptstadt konkurrieren. Aber du wirst dich auch hier gut unterhalten.”
Wie Abigail vermutete, schätzte ihre Patentante den gemächlichen Lebensstil in der einst so fashionablen Kurstadt. Lady Penrose strahlte träge Zufriedenheit aus. Offenbar hatte Miss Felcham recht, wenn sie behauptete, ihre Herrin sei in letzter Zeit immer gleichgültiger geworden. Andererseits gewann Abbie den Eindruck, dass Ihre Ladyschaft zwar körperliche Aktivitäten scheute, indes einen hellwachen Geist besaß.
“Sicher werde ich meinen Aufenthalt in Bath genießen, Tante Henrietta. Doch du solltest dich nicht um mein Amüsement bemühen. Ich bin an ein ruhiges, beschauliches Leben gewöhnt.”
Erstaunt hob Lady Penrose die Brauen. “Also hat die Jagdleidenschaft nachgelassen? Das überrascht mich. Eigentlich dachte ich, Leicestershire würde scharenweise junge Gentlemen anlocken, die diesem Sport huldigen.”
“Oh, daran hat sich nichts geändert”, erklärte Abbie. “Großvater lädt oft begeisterte Jäger nach Foxhunter Grange ein.”
“Ach, wirklich? Dann müsstest du dich auf dem gesellschaftlichen Parkett heimisch fühlen.” Erneut musterte Lady Penrose die altmodische Aufmachung ihrer Patentochter. Dann wandte sie sich dem Tablett mit Erfrischungen zu, das sie geordert hatte, und schenkte den Tee ein. “Ich muss sagen, der Colonel hat mich mit der Ankündigung deines Besuches ebenso überrascht wie erfreut”, fuhr sie fort.
Der forschende Blick, mit dem Abigail diese Bemerkung quittierte, blieb Ihrer Ladyschaft nicht verborgen, doch sie lenkte das Gespräch auf die Unternehmungen, die sie für Abbies Aufenthalt geplant hatte. Als nach einer knappen Stunde das Dienstmädchen kam, um abzuräumen, wies sie es an, der jungen Dame ihr Zimmer zu zeigen und Miss Felcham unverzüglich in den Salon zu schicken.
Sobald Abigail den Raum verlassen hatte, erhob sich Ihre Ladyschaft, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm einen Brief aus einem Schubfach. Während sie ihn überflog, erschien die Zofe.
“Nun, was meinen Sie, Felchie?”, wollte Lady Penrose ohne Umschweife wissen.
Falls die Bedienstete über die unverblümte Frage staunte, ließ sie sich nichts dergleichen anmerken. Leise schloss sie die Tür hinter sich. “Ein Rätsel, Mylady. Finden Sie nicht auch?”
“Allerdings. Warum eine so schöne, charmante und gut erzogene junge Frau mit dreiundzwanzig Jahren noch immer unverheiratet ist, begreife ich nicht.”
“Nun, vielleicht fühlt sie sich wohl bei ihrem Großvater.” Miss Felcham klang unsicher, sodass ihre Herrin sofort nachhakte.
“Aber diesen Eindruck haben Sie nicht gewonnen.”
“Nein, Mylady”, gab die Zofe zu. “Ich glaube, Miss Graham und ihr Großvater verstehen sich nicht allzu gut. Am Morgen unserer Abreise verließ der Colonel zeitig das Haus. Miss Abbie wollte seine Rückkehr nicht abwarten, um sich von ihm zu verabschieden.”
“Könnte es sein, dass sie nicht herkommen wollte?”
“Ganz im Gegenteil”, versicherte die Zofe.
“Das glaube ich auch. Sie war ganz begeistert von
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