Ein Geschenk der Kultur
weißt, daß das nicht wahr ist. Wir sprechen mindestens über die nächsten zehntausend Jahre, nicht über die bleierne Zeit bis zum Dritten Weltkrieg. Es geht nicht um die Möglichkeit, ihn aufzuhalten; es geht darum, ob es auf sehr lange Sicht richtig ist, das zu tun.«
»Großartig«, flüsterte ich in die wirbelnden dunklen Fluten des Mains. »Wie viele Kinder müssen also im Schatten der Pilzwolke aufwachsen und möglicherweise im brüllenden Innern der radioaktiven Bruchmasse sterben, nur damit wir sichergehen können, daß wir das Richtige tun? Wie sicher müssen wir unserer Sache sein? Wie lange wollen wir warten? Wie lange wollen wir sie warten lassen? Wer hat uns zur göttlichen Instanz erwählt?«
»Diziet«, sagte das Schiff mit kummervoller Stimme, »diese Frage wird andauernd gestellt und auf so viele verschiedene Weise formuliert, wie wir den Verstand haben, uns auszudenken… Und diese moralische Gleichung wird in jeder Nano-Sekunde eines jeden Tages in jedem Jahr neu aufgestellt, und jedesmal wenn wir einen Ort wie die Erde finden – gleichgültig, wie die Entscheidung ausfällt –, kommen wir der Erkenntnis der Wahrheit ein Stückchen näher. Aber wir können niemals vollkommen sicher sein. Die absolute Sicherheit steht nicht einmal als Menü zur Auswahl, meistens jedenfalls nicht.« Es entstand eine Pause. Schritte näherten und entfernten sich hinter mir auf der Brücke.
»Sma«, sagte das Schiff schließlich, und in seiner Stimme klang eine Spur von Wut und Enttäuschung mit, »ich bin im Umkreis von hundert Lichtjahren das klügste Wesen – und zwar mit einem Multiplikationsfaktor von etwa einer Million –, aber selbst ich kann nicht voraussagen, wo ein Billardball nach mehr als sechs Karambolagen landet.«
Ich schnaubte durch die Nase; fast hätte ich gelacht.
»So«, sagte das Schiff, »ich glaube, jetzt solltest du dich allmählich auf den Weg machen.«
»Ach?«
»Ja. Ein Passant hat der Polizei über eine Frau auf der Brücke berichtet, die mit sich selbst spricht und ins Wasser starrt. Ein Beamter ist zur Ermittlung unterwegs; wahrscheinlich überlegt er sich bereits, wie kalt das Wasser wohl sein mag, und deshalb meine ich, du solltest dich nach links wenden und klugerweise das Weite suchen, bevor er eintrifft.«
»Da hast du recht«, sagte ich und schüttelte den Kopf, während ich in dem trüben Licht davonspazierte. »Komische alte Welt, findest du nicht, Schiff?« sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.
Das Schiff erwiderte nichts. Die Hängebrücke, so groß sie auch war, reagierte auf die Schritte meiner Füße und bewegte sich im Rhythmus mit mir auf und ab wie ein gigantischer tolpatschiger Liebhaber.
5.2: Unliebsame Reisebegleiterscheinungen
Zurück auf dem Schiff.
Für einige Stunden hatte die Willkür die Schneeflocken der Welt ungestört gelassen und auf Lis Wunsch hin andere Musterexemplare gesammelt.
Als mich Li zum erstenmal auf dem Schiff traf, kam er dicht an mich heran und flüsterte mir zu: »Nimm ihn mit in den Film Der Mann, der vom Himmel fiel«, dann huschte er davon. Als ich ihm das nächstemal begegnete, behauptete er, daß es das erstemal wäre und daß ich unter Halluzination leiden müßte, wenn ich mir einbildete, wir hätten uns schon mal gesehen. Eine nette Art und Weise sei das, einen Freund und Bewunderer zu begrüßen, indem man ihm unterstellte, er wäre herumgewandert und hätte geheimnisvolle Botschaften geflüstert…
Also; in einer mondlosen Novembernacht, auf der Schattenseite über dem Tarim-Becken…
Li gab eine Dinnerparty.
Er versuchte immer noch, Captain der Willkür zu werden, doch anscheinend brachte er seine Vorstellungen von Rang und Demokratie etwas durcheinander, denn er glaubte, der beste Weg, um ›Skipper‹ zu werden, wäre der, daß er uns alle dazu brächte, für ihn zu stimmen. Es handelte sich also um eine Wahlveranstaltung.
Wir saßen im unteren Hangarraum, umgeben von unserer Hardware. Etwa zweihundert Leute waren im Hangar versammelt; alle, die sich noch auf dem Schiff befanden, hatten sich eingefunden, und viele hatten eigens zu diesem Anlaß ihren Aufenthalt auf dem Planeten unterbrochen. Li hatte uns alle um drei riesenhafte Tische Platz nehmen lassen, von denen jeder zwei Meter in der Breite und mindestens das Zwanzigfache davon in der Länge maß. Er hatte darauf bestanden, daß es richtig ordentliche Tische sein sollten, vollständig mit Stühlen und Gedecken und allem Drum und Dran, und
Weitere Kostenlose Bücher