Ein Geschenk von Tiffany
will.«
»Wolltest du das denn nicht?«
Cassie sah ihn an. Henry schien ihm doch nicht alles erzählt zu haben. »Na ja, ich bin nicht unbedingt freiwillig verreist. Ich war zufrieden da, wo ich war. Ich hatte mir ein Leben aufgebaut, hatte Wurzeln geschlagen. Ich wollte nicht einfach so auf und davon und in der Weltgeschichte herumgondeln.«
Claude schaute aus dem Fenster und nickte wie zu sich selbst.
»Ja, Henry hat noch nie jemanden verloren«, sagte er, »für ihn ist die Welt noch heil. Für ihn ist sie wie ein Geschenk, das man auspacken soll. Ich glaube, er wollte dir mit dieser Liste eine Freude machen, wollte, dass du die Welt mit seinen Augen siehst: etwas Spannendes, etwas Schönes.«
»Na, ich muss zugeben, dass ihm das gelungen ist. Die schönsten Momente hatte ich bisher immer mit seinen Listen.«
»Ach ja?«
»Dich kennenzulernen, zum Beispiel.« Cassie war verlegen, aber es war die Wahrheit. »Und dann sein Freund Robin in New York. Kennt ihr euch?« Vielleicht kannten sie sich ja alle, eine Art Männer-Netzwerk.
Aber Claude schüttelte den Kopf.
»Also, Robin hat mich in einer Erstausgabe der Weihnachtsgeschichte von Dickens lesen lassen. Die Charles Dickens persönlich gehört hat!«
Claude nickte beeindruckt.
»Und er hat mir ein Geschenk unter den Weihnachtsbaum von Tiffany’s in der Fifth Avenue legen lassen. Weißt du, diese Dinge – diese seltsamen, wunderbaren Dinge, die einen aus dem normalen Alltag herausreißen …« Sie seufzte glücklich. »Aber es war nicht alles ein Honigschlecken«, sagte sie gespielt ernst. »Non?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mich gezwungen, einmal um den ganzen Central Park zu laufen. Dabei hatte ich am Abend zuvor einen halben Kasten Château Margaux getrunken.«
»Non?«
»O doch.« Sie hielt inne. »Obwohl – das mit dem Château Margaux war wohl eher meine Schuld …«
Claude lachte – zum ersten Mal, seit sie ihn kannte. Cassie starrte ihn verblüfft an. Er sah so jung aus, wie ein kleiner Junge, der von der Mutter gekitzelt wird.
»Ihr seid einer so schlimm wie der andere«, sagte er kopfschüttelnd.
»Mag sein«, räumte sie ein und schob sich ein veilchenblaues Macaron in den Mund.
»Musst du sonst noch irgendwelche Fremden in Paris anrufen?«
»Gott sei Dank, nein! Jetzt weiß ich, wieso mich meine Eltern immer davor gewarnt haben, mit Fremden zu reden! Du hast mich fürs Leben traumatisiert.« Sie lachte. »Aber ich muss es schaffen, eine Einladung zu einer geheimen Picknick-Gesellschaft zu kriegen. Du hast wohl keine Ahnung davon?«
Claude schüttelte verständnislos den Kopf.
»Und ich muss die Katakomben besuchen.«
»Ach, mon Dieu .« Er schüttelte sich.
»Wieso?«
»Vierhundert Meilen Tunnel, die sich über sieben Ebenen unter der Stadt erstrecken. Die meisten davon in keiner Karte verzeichnet.« Er schaute sie an. »Da kann man sehr leicht verloren gehen.«
Cassie hörte auf zu essen. »Und ich kann sowieso so schlecht im Dunkeln sehen!«
»Na ja, ein Teil davon ist für Besucher zugänglich. Da ist es sauber und gut beleuchtet.« Er fixierte sie mit seinem Blick. »Man darf natürlich keine Angst vor Knochen haben.«
»Knochen!«
»Die Wände bestehen praktisch aus menschlichen Knochen und Schädeln.«
Cassie schluckte erschreckt. »Wieso?«
»Weil die Friedhöfe gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts total überfüllt waren. Man musste die Überreste ausgraben und hat sie in Kalkgruben geworfen. Es heißt, dass dort unten über sechs Millionen Knochen sein sollen.«
Cassie verzog das Gesicht. »Ne tolle Party.«
Claude lachte. Er winkte der Kellnerin, die sich fast überschlug.
Claude bezahlte für sie beide – er ließ es sich nicht nehmen – und führte Cassie wieder hinaus in die Kälte. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Cassie hatte rote Backen.
Er setzte die Kapuze seines Parkas auf. Cassie dachte unwillkürlich, wie sehr sie sich fürchten würde, wenn sie ihm abends auf einer einsamen Straße begegnete. Er sah so riesig, so finster und bedrohlich aus. Und doch hatte er sich etwas beinahe Kindliches, Verletzliches bewahrt. Anouk war derzeit viel gefährlicher als er. »Ich hab mir gedacht – wenn du willst, könnten wir uns auch öfter sehen. Dienstagabends vielleicht? Und donnerstags?«
»Wenn ich will? Spinnst du? Das wäre einfach spitze!«, jubelte Cassie und fiel ihm spontan um den Hals. Claude stand mit hängenden Armen da, aber Cassie ließ sich nicht beirren. Wenn sie
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