Ein Gespür für Mord - Detective Daryl Simmons 1. Fall
einem Tunnel zu leben. Ich sehe das Licht zu beiden Seiten, aber ich kann mich einfach nicht für eine Richtung entscheiden.«
Noch einmal drückte Daryl Meenas Hände, dann ließ er sie los. »Das müssen Sie auch nicht. Klettern Sie stattdessen auf den Berg darüber. Befreien Sie sich von der Enge und den Ängsten, die Sie plagen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie dann wissen, wo Ihr Platz ist – wie gesagt, auch ich zweifle mitunter noch. Aber Sie werden sehen, dass Sie von da oben einen ungetrübteren Blick auf beide Seiten Ihrer Seele haben.«
Zum ersten Mal seit Wochen lächelte Meena wieder. »Das war jetzt schon fast philosophisch«, erwiderte sie. »Sie verstehen es wirklich, einen immer wieder in Erstaunen zu versetzen.«
»Das hoffe ich doch«, entgegnete Daryl. »Und nun sollten Sie etwas essen.«
Folgsam hob Meena das Frühstückstablett auf ihre Beine. Doch bis auf ein Glas Orangensaft, das sie in einem Zug hinunterschüttete, rührte sie nichts an.
»Was ist los, keinen Hunger?«, fragte Daryl enttäuscht. »Das können Sie mir nicht antun. Mrs. Sharp wird mich vierteilen, wenn ich mit vollem Tablett zurückkomme. Sie wissen ja, wie sie ist.«
Das Mischlingsmädchen lachte. »Also gut. Nachdem Sie so viel für mich getan haben, werde ich brav sein und alles aufessen.«
»Na, wer sagt’s denn.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich komme in einer halben Stunde noch mal vorbei, um abzuräumen.« Auf halbem Weg zur Tür blieb Daryl ein weiteres Mal stehen und wandte sich um. »Übrigens, Ray wollte Sie gestern unbedingt noch sprechen. Aber Sie schliefen schon, daher habe ich ihn auf heute vertröstet.«
Die Augen des Mädchens begannen zu leuchten. »Wissen Sie, was er wollte?«
»Nein. Aber nachdem Sie verschwunden waren, hat er sich wie ein Verrückter aufgeführt. Er hat nicht aufgehört, nach Ihnen zu suchen. Sogar mit Ihrem Halbbruder hat er sich geprügelt. Er machte sich wirklich große Sorgen um Sie – und hat uns dabei alle ziemlich genervt. Aber vielleicht hat ihn das endlich zur Vernunft gebracht, und er hat eingesehen, dass er offen und ehrlich mit Ihnen über seine Gefühle sprechen sollte.«
»Das wäre schön«, flüsterte sie. Als sich Daryl wieder umdrehen wollte, rief sie: »Mr. Simmons?«
»Ja?«
»Was geschieht jetzt mit Murgura? Ich meine, werden Sie ihn verhaften?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Nun ja«, antwortete sie nach kurzem Zögern, »weil er mich bedroht hat.«
»Ich denke, was das angeht, hat er seine Lektion gelernt. Er wird sein Wort halten.«
»Eine Frage habe ich noch. Haben Sie ihn wirklich mit einem Fluch belegt?«
Daryl lächelte geheimnisvoll. Er tastete nach dem Tabakbeutel. »Das, meine Liebe, ist ein Stammesgeheimnis.« Er schloss die Tür und ging durch den Flur ins Wohnzimmer.
Martin Barrow saß am Funkgerät, wo er sich gerade von Sergeant Morley verabschiedete. Als er sich Daryl zuwandte, zog er ein ernstes Gesicht. »Das war Morley. Er ist vor einer Viertelstunde in Broome gestartet. Nun wird es wohl ernst.«
Daryl nickte. »Es wird nicht einfach werden. Zwar weiß ich, wer Buttler und Pierson getötet hat, aber es wird schwierig sein, ein Geständnis zu kriegen.«
»Was ist mit Murgura? Ist er inzwischen zurückgekommen?«
»Noch nicht. Er hat wohl im Busch übernachtet. Es gab eine Menge, worüber er nachdenken musste. Aber ich bin überzeugt, dass er bald hier sein wird.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Ganz einfach. Murgura ist kein Mann, der vor irgendetwas davonläuft.«
In diesem Augenblick knallte die Eingangstür mit lautem Poltern gegen die Wand und Poison-Joe stürmte ins Haus. »Das ist nicht gut, gar nicht gut«, rief er keuchend.
Barrow und Daryl sahen ihn verständnislos an.
»Was ist los?«, fragte Daryl. Auf einen Schlag hatte er ein flaues Gefühl im Magen.
»Das hier«, rief Poison-Joe aufgeregt und wedelte mit einem Brief in der Luft herum. »Ich sage euch, das bedeutet nichts Gutes.«
»Bitte der Reihe nach, und beruhigen Sie sich«, befahl Martin Barrow ihm.
»Ray Hill, er ist verschwunden. Erst dachte ich, er sei gleich als Erstes rüber zu Meena gegangen, schließlich konnte er es gestern kaum abwarten, mit ihr zu reden. Aber als ich die Männer, die mit ihm die Unterkunft teilen, fragte, wann er aufgestanden sei, zuckten sie mit den Schultern und meinten, er sei bereits weg gewesen, als sie aufstanden. Aber auf seinem Bett läge ein Brief.« Er rümpfte verärgert die Nase.
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