Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
daran denken müssen, ein weiteres zu bekommen. Eine Familie mit fünf Kindern, das ist schon ganz anständig, aber Jason weiß um seine Verpflichtung gegenüber dem Leben, die von ihm verlangt, neues Leben zu schaffen. Wenn man zu wachsen aufhört, beginnt man zu sterben; das trifft auf das Leben eines Menschen ebenso zu wie auf die Bevölkerung eines Urban Monad, einer Urbmon-Konstellation, eines Kontinents, einer Welt. Gott ist das Leben, und das Leben ist Gott.
Er legt sich neben seiner Frau nieder.
Er schläft.
Er träumt, daß Micaela wegen antisozialen Verhaltens dazu verurteilt worden ist, in den Schacht geworfen zu werden.
Hinab mit ihr! Mamelon Klüver kommt vorbei, um ihr Beileid auszusprechen. »Armer Jason«, murmelt sie. Ihre bleiche Haut wirkt so kühl gegen die seine. Ihr betörender Duft. Ihre vollendeten Gesichtszüge. Diese absolute Selbstbeherrschung. Sie ist noch nicht einmal siebzehn; wie kann sie nur so vollkommen sein? »Hilf mir, Siegmund loszuwerden, und wir beide werden zusammengehören«, sagt Mamelon. Ihre Augen sind hell, geben ein Versprechen, laden ihn ein, ihr Geschöpf zu sein. »Jason«, wispert sie. »Jason, Jason, Jason. Du. Du. Du.« Der Ton ihrer Stimme ist wie eine Umarmung. Ihre Hand liegt auf seiner Männlichkeit. Er erwacht bebend, schwitzend, furchterfüllt, einen winzigen Schritt von einem Orgasmus entfernt. Er setzt sich auf und geht flüsternd eins der Vergebungsrituale für unanständige Gedanken durch. Gott segne, denkt er, Gott segne, Gott segne, Gott segne. Ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte es nicht, es war in meinem Bewußtsein. Wenn mein Geist seine Fesseln verliert, dann ist er wie ein Ungeheuer. Er vollendet die spirituelle Übung und legt sich wieder hin. Er schläft ruhig und träumt von harmloseren Dingen.
Am nächsten Morgen beeilen sich die Kleinen, zur Schule zu kommen, und Jason ist im Begriff, in sein Büro zu gehen. Plötzlich sagt Micaela: »Ist es nicht interessant, daß du 600 Ebenen tiefer gehst, um zu arbeiten, während Siegmund Klüver nach ganz oben geht, nach Louisville?«
»Was, bei Gottes Segen, meinst du damit?«
»Ich sehe darin eine symbolische Bedeutung.«
»Symbolischer Mist. Siegmund ist in der urbanen Administration tätig; er geht dahin, wo die Administratoren sind. Ich bin Historiker; ich gehe dahin, wo die Geschichtsarchive sind. Also?«
»Würde es dich nicht reizen, eines Tages nach Louisville zu kommen?«
»Nein.«
»Warum hast du keinen Ehrgeiz?«
»Ist denn das Leben hier so elend?« fragt er, wobei er sich mühsam zurückhalten muß.
»Warum hat Siegmund im Alter von vierzehn oder fünfzehn schon so viel aus sich gemacht? Und was bist du dagegen mit deinen sechsundzwanzig Jahren?«
»Siegmund ist ehrgeizig«, gibt Jason zurück, »und ich bin es nicht. Ich bestreite es ja gar nicht. Vielleicht hat das eine genetische Ursache. Siegmund strebt nach oben, und ihm schadet es offenbar nicht. Die meisten Männer tun das nicht. Übertriebenes Streben macht unfruchtbar, Micaela. Strebertum ist primitiv. Gott segne, was stimmt denn nicht mit meiner Karriere? Was stört dich daran, in Schanghai zu leben?«
»Eine Ebene tiefer, und wir würden…«
»… in Chikago leben«, ergänzt er. »Ich weiß. Aber wir wohnen eben nicht in Chikago, sondern in Schanghai. Kann ich jetzt in mein Büro gehen?«
Er geht. Er fragt sich, ob er sie nicht besser in das Beraterbüro schicken soll, damit sie einer Wirklichkeitsanpassung unterzogen wird. Die Grenze der Frustrationen, die sie ertragen kann, ist in letzter Zeit alarmierend gesunken; zugleich hat sie die Ebene ihrer Erwartungen immer höher geschraubt. Jason ist sich sehr wohl dessen bewußt, daß solche Dinge sofort behandelt werden müssen, bevor sie unkontrollierbar werden und zu antisozialem Verhalten führen – und schließlich im Schacht enden. Micaela braucht vermutlich einen Ethikingenieur. Aber er läßt den Gedanken, einen Berater zu verständigen, sofort wieder fallen. Ich mag es nicht, wenn jemand im Bewußtsein meiner Frau herumstochert, sagt er sich, aber eine leise innere Stimme wirft ihm vor, daß er nur deshalb nichts unternimmt, weil er insgeheim wünscht, daß Micaela sich eines Tages antisozial verhält und im Schacht endet.
Er betritt den Fall-Lift und programmiert ihn für die 185. Ebene.
Dort verläßt er den Lift und durchquert die verschlagenen Korridore Pittsburghs bis zu seinem Büro. Ein bescheidener Raum, aber er liebt ihn. Bunt schillernde
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