Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
Erfolg entschuldigt.
Oder ist das auch nur ein fiktives Bild? Manchmal denkt er, daß der verborgene Siegmund, der private Siegmund nur eine Fassade ist, die er aufgebaut hat, damit er noch Sympathie für sich selbst empfinden kann, und daß sich erst darunter der wirkliche Siegmund befindet, der rücksichtslose, ehrgeizige, streberische Siegmund, wie ihn die Außenwelt sieht.
Er geht jetzt fast jeden Morgen nach Louisville. Sie verlangen ihn als Berater. Einige der höchsten Männer haben eine Art Spielzeug aus ihm gemacht – Lewis Holston, Nissim Shawke, Kipling Freehouse, alles Männer, die die obersten Stufen der Autorität erreicht haben. Er weiß, daß sie ihn benützen, daß sie all die schmutzigen und mühsamen Arbeiten auf ihn abwälzen, die sie selbst nicht gern machen. Sie nützen seinen Ehrgeiz aus. Siegmund, bereite einen Bericht über die Mobilitätsveränderungen der Arbeiterklasse vor. Siegmund, erstelle eine tabellarische Übersicht der Adrenalin-Gleichgewichte in den mittleren Städten. Siegmund, wie hoch ist der Wiedergewinnungsanteil der Abfallprodukte in diesem Monat? Siegmund. Siegmund. Siegmund. Aber er benützt sie ebenfalls. Er macht sich sehr schnell unentbehrlich, während sie die Gewohnheit übernehmen, ihn für sich denken zu lassen. In ein oder zwei Jahren werden sie ihn zweifellos bitten müssen, im Gebäude weiter nach oben zu rücken. Vielleicht werden sie ihn von Schanghai nach Toledo oder Paris versetzen; wahrscheinlicher aber ist, daß er direkt nach Louisville gehen wird, sobald eine Position frei wird. Nach Louisville, bevor er zwanzig ist! Hat das vor ihm jemals jemand erreicht?
Bis dahin wird er sich vielleicht sicherer fühlen unter den Mitgliedern der herrschenden Klasse.
Er kann sehen, wie sie hinter ihren Augen über ihn lachen. Sie sind schon vor so langer Zeit an die Spitze gekommen, daß sie vergessen haben, wie andere noch immer darum kämpfen müssen. Siegmund weiß, daß er in ihren Augen komisch wirken muß – ein kleiner Streber, der es unbedingt nach oben schaffen will. Sie tolerieren ihn, weil er fähig ist – vermutlich fähiger als die meisten von ihnen. Aber sie respektieren ihn nicht. Sie halten ihn für einen Narren, weil er so unerbittlich nach etwas strebt, das für sie nur noch Langeweile bedeutet.
Nissim Shawke zum Beispiel. Vermutlich einer der zwei oder drei wichtigsten Männer des Urbmons. (Wer ist der wichtigste? Nicht einmal Siegmund weiß das. Auf der höchsten Ebene wird Macht zu einer verschwommenen Abstraktion; in einem bestimmten Sinn hat jedermann in Louisville absolute Autorität über das ganze Gebäude, in einem anderen Sinn hat es keiner.) Shawke ist etwa sechzig, schätzt Siegmund. Sieht viel jünger aus. Ein schlanker, athletischer, imposanter Mann. Etwas gebräunte Haut, kühle Augen. Immer achtsam, vorsichtig, beherrscht. Er macht den Eindruck eines ungeheuer dynamischen Mannes, der auch die schwierigste Aufgabe im Handumdrehen bewältigen könnte. Aber soweit Siegmund das beurteilen kann, macht Shawke überhaupt nichts. Er delegiert alle Regierungsangelegenheiten an seine Untergebenen; er bewegt sich durch seine Büros auf dem Gipfel des Gebäudes, als wären die Probleme des Urbmons nur Phantome. Warum sollte er noch Ehrgeiz haben? Er ist ganz oben. Es ist ihm gelungen, alle zum Narren zu halten, alle außer vielleicht Siegmund. Shawke braucht nichts zu tun, er braucht nur Shawke zu sein. Jetzt erfreut er sich der Annehmlichkeiten seiner Position. Sitzt da wie ein Prinzgemahl der Renaissance. Ein Wort von Nissim Shawke könnte fast jeden den Schacht hinunterschicken. Ein einziges Memorandum von ihm könnte einige der wichtigsten Grundsätze des Urbmon-Lebens aufheben. Aber er entwirft keine Programme, er läßt keine Vorschläge an seinem Veto scheitern, er geht allen Veränderungen aus dem Weg. Solche Macht zu haben und ihre Ausübung zu verweigern, das erscheint Siegmund geradezu als ein Lächerlichmachen der eigentlichen Idee der Macht. Shawkes Passivität bedeutet zugleich Verachtung für die Werte, die Siegmund achtet. Sein sardonisches Lächeln gibt allen Ehrgeiz der Lächerlichkeit preis. Es bestreitet, daß es einen Sinn hat, der Gesellschaft zu dienen. Ich bin hier, sagt Shawke mit jeder Geste, und das genügt mir; soll der Urbmon sich um sich selbst kümmern; jeder, der freiwillig seine Probleme auf sich lädt, ist ein Idiot. Siegmund, der danach strebt, selbst zu regieren, spürt schon die Zweifel, die Shawke in
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