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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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Oumanski wurde Botschafter in Washington und Mexiko, indessen kam auch er innerhalb von zehn Jahren auf geheimnisvolle Weise bei einem Flugzeugunglück um. Die Demokratie in Rußland wäre für die gemeinsame Arbeit für den Frieden mit den westlichen Demokratien gegen Hitler sehr zweckdienlich gewesen. Ein demokratisches Rußland würde den Kräften in England und Frankreich, die gegen die Vermittlungspolitik eingestellt waren, geholfen haben, ihre Neville Chamberlains und Daladiers abzusetzen. Ein demokratisches Rußland würde die Stalinsche Säuberungsaktion und die großen Moskauer Schauprozesse vermieden haben, die Rußland sowohl wirtschaftlich wie militärisch schwächten. Ein demokratisches Rußland würde den Vertrag von 1939 mit Hitler nicht unterzeichnet haben. Mit anderen Worten, ein demokratisches Rußland hätte vielleicht den Krieg verhindern können, den die totalitären Sowjets halfen heraufzubeschwören.
    Abgesehen von dem seinem eigenen System innewohnenden Zwang zum Wahnsinn ist Stalin weise, und es sind Anzeichen vorhanden, daß er sich über die innere, durch zunehmende Unterdrückung und dahinschwindendes Vertrauen entstandene Krise im klaren war. Die Bolschewisten hatten das geistige Erbe der Revolution vertan. Gewiß gab es 1934 mehr Brot, doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders dann nicht, wenn die Brotversorgung unsicher ist. Das Regime benötigte neue volkstümliche Anreizmittel. Es war imstande, die bereits eingeführte Politik zu verstärken, nämlich stetig wachsende Sondervorrechte und Einkünfte der Armee, der GPU, den Ingenieuren, der proletarischen Aristokratie und den oberen Soldaten der staatlichen Bürokratie zu gewähren, die alle zusammen die gedungene Prätorianergarde des Sowjetsystems bildeten. Doch die einzigen neuen und noch nicht ausprobierten Anreizmittel, die dem bolschewistischen Regime zur Verfügung standen, waren der Nationalismus und die Freiheit. Stalin versuchte es mit dem Nationalismus.
    Nachdem sie den Ausblick auf die Zukunft zerstört hatte, blieb der Diktatur keine andere Wahl, als der Zukunft den Rücken zu kehren und sich der Vergangenheit in die Arme zu werfen. Dies war das wahre Wesen der nationalistischen „Linie", wie sie 1934 von dem Kreml aufgegriffen wurde. Die Nazi-Revolution begann mit der Verherrlichung der deutschen Vergangenheit. Die bolschewistische Revolution endete, als sie Rußlands Vergangenheit verherrlichte.
    Rußland hatte eine große Vergangenheit, und seine Helden waren antizaristische Rebellen. Die nunmehrige neue Phase feierte indessen nicht die Rebellen, sondern die Zaren. Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Katharina die Große, zaristische Fürsten, antirevolutionäre zaristische Generäle wie Suwarow und mittelalterliche Mönche wurden von Spinnweben befreit, abgestaubt und als nationale Heilige aufpoliert und zur Anbetung einem bestürzten Volke dargeboten, dem man beigebracht hatte, sie zu verabscheuen. Diese Possen verschärften die Vertrauenskrise nur noch mehr, die damit begonnen hatte, als man der Nation erzählte, daß Trotzki und andere Väter der Revolution Faschisten seien. Wenn Trotzki ein Faschist und Iwan der Schreckliche ein Sowjetheld war, dann schwanden sämtliche bestehenden Maßstäbe für eine Beurteilung dahin und niemand wußte mehr, woran er glauben sollte. Heute Abend noch konnten vielleicht die Engel vom Vormittag zu Teufeln erklärt werden. Die hieraus entstehende geistige Verwirrung verleitete zu Heuchelei und zu automatischer, gedankenloser Annahme der unvorhersagbaren Offenbarung von den Höhen des Kreml. Darin lag zum mindesten ein Minimum an Sicherheit.
    Der neue Nationalismus war ein russischer Nationalismus. Parademarsch klopfende Gelehrte schrieben die Geschichte um, um damit zu beweisen, daß das zaristische Rußland kein „Völkergefängnis" gewesen sei, wie es die Kommunisten zu behaupten gewohnt waren. Das Erlernen der russischen Sprache wurde allen nationalen Minderheiten zur Pflicht gemacht. Der äußerliche Pomp und Flitter des Zarentums, den die Bolschewisten als Überbleibsel einer üblen Vergangenheit geschmäht hatten, wurde wieder eingeführt; Titel und Epauletten für die Offiziere der Armee tauchten wieder auf. Es war dies die Anerkennung des neuen Dogmas „Rußland über alles", des geharnischten Nationalismus, der einige Jahre später dazu führte, daß man die „Internationale" zugunsten einer Rußland gewidmeten Nationalhymne zum alten Eisen warf und daß

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