Ein Gott der keiner war (German Edition)
daß ein Gesellschaftssystem die Freiheit verkündet und sie dennoch begrenzt, ist kein Grund dafür, ein System anzunehmen, das die Freiheit völlig ausrottet. Es ist ein guter Grund, die zahlreichen Beschränkungen von personeller, politischer und wirtschaftlicher Freiheit in allen Demokratien aufzuheben und die Demokratie mit einer Moral im Geiste Gandhis zu bereichern, die vor allem darin besteht, daß sie die Mittel und Wege, den Menschen und die Wahrheit respektiert.
Rückblickend sehe ich, daß ich mich Sowjetrußland zuwandte, weil ich glaubte, daß es das Problem der Macht gelöst habe. Die Wissenschaft legt eine ständig wachsende Macht in die Hand des Menschen, und er weiß nicht, was er damit tun soll. Das größte Problem des 20. Jahrhunderts ist die Kontrolle der persönlichen Macht wie auch der Macht größerer Schichten und der nationalen Macht. Die Tatsache, daß ich Sowjetrußland akzeptierte, war, wie ich annehme, ein Nebenprodukt meines Protestes gegen die Macht über Menschen, die Reichtum und Wohlstand anhäufte, die für die Machthaber bestimmt waren.
In meiner Jugend las ich das Buch von Henry George: „Progress and Poverty". [11] Ich nahm damit die geistige trustfeindliche Einstellung der Theodore Roosevelt-Aera und den Liberalismus und den Populismus" in mich auf, die ein Teil der Erbschaft jedes armen Amerikaners sind. Dann trat Sowjetrußland auf und versprach, für immer die Macht der Grundbesitzer, der Trusts, der Großfinanz und des Privatkapitals im allgemeinen zu brechen.
Ich habe meine Haltung gegenüber den Gefahren einer übergroßen Macht nicht geändert. Aber ich begreife heute, daß der Bolschewismus kein Weg aus diesem Dilemma ist, denn er stellt in sich selber die größte Machtanhäufung der Welt über die Menschen dar. Ich gerate in Wut über die Ungerechtigkeiten, die an den unglücklichen Bewohnern der Siedlungsstädte in den Kohlengebieten meines Heimatstaates Pennsylvania begangen werden, wo die Bergwerksgesellschaften Besitzer der Arbeiterhäuser sind und die Geschäftsläden ebenfalls von ihnen im Monopol betrieben werden. Doch die ganze Sowjetunion ist eine einzige gigantische Bergwerksstadt, in der der Staat sämtliche Beschäftigungen kontrolliert, in der ihm alle Häuser gehören und in der sämtliche Geschäfte, Schulen, Zeitungen usw. von ihm betrieben werden und aus dem man nicht entrinnen kann, wie man aus einer Bergwerksstadt in Pennsylvania dies vermag. Stalins Rußland ist als ein Polizeistaat gebrandmarkt. Das ist aber nur ein Bruchteil des Übels. Der Kreml hält seine Staatsangehörigen nicht nur durch Polizei- und Gefängnisgewalt unterjocht, sondern durch die viel größere Macht, die darin liegt, daß er jedes wirtschaftliche Unternehmen des Landes besitzt und es alleinig betreibt. Die Trusts und Kartelle sowie die Monopole des Kapitalismus sind Pygmäen im Vergleich zu dem einen politisch-wirtschaftlichen Mammutmonopol, das der sowjetische Staat darstellt. Gegen seine Macht gibt es keinen Einspruch, weil es in der Sowjetunion keine Machtstellung gibt, die nicht von der Regierungsdiktatur besetzt ist.
Daher lernte ich an dem Beispiel Rußland, daß allein die Übertragung des Besitzes aus privaten Händen in die Hände der Regierung nicht zu Freiheit oder besseren Lebensbedingungen führt. Wenn der gesamte Besitz auf den Staat übertragen wird und wenn bei diesem Vorgang der Mittelstand, als ein entscheidender Faktor innerhalb der modernen industriellen Zivilisation, ruiniert wird, dann ist nichts gewonnen; in Wirklichkeit ist vieles verlorengegangen.
Was die Welt braucht, ist ein Gleichgewicht der wirtschaftlichen und politischen Macht, so daß keine Partei, keine Klasse, keine Regierung und keine Vereinigung privater Interessen allmächtig wird und unangreifbar ist. Sowjetrußland fehlt das Gleichgewicht. Das ist das wahre Wesen der Diktatur und es erklärt die willkürlichen Handlungen der sowjetischen Regierung im Ausland wie im Inland gegenüber den Arbeitern, der Landbevölkerung, den Beamten, den Kommunisten, Musikern und Künstlern usw. Rußland kann das Machtproblem nicht lösen, weil es die übelste Erscheinungsform dieses Problems ist.
Nach „Kronstadt" sollte der ehemalige Freund einer Diktatur daran gehen, für eine Demokratie zu arbeiten, in der die Macht so aufgeteilt ist, daß sie niemals monopolartig (und sei es selbst von einer Regierung, die sich auf eine Mehrheit stützt), ausgeübt werden kann, natürlich aber auch nicht
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