Ein Gott der keiner war (German Edition)
Gewalt der Elemente auf eine Insel geworfen wird, wie ungerecht scheint es da, daß es Männer und Frauen geben sollte, denen es nicht erlaubt ist, die Welt zu erforschen, in die sie hineingeboren wurden, sondern die ihr ganzes Leben hindurch in ihren bleischweren Elendsquartieren wie lebendig Begrabene eingeschlossen leben sollen. Mir schien es – wie es mir noch immer scheint – daß die einmalige Situation eines jeden Menschen innerhalb des Lebens größeres Gewicht hat als die Gedankengänge, die Klassen und gesellschaftliche Vorrechte rechtfertigen.
Indessen verband ich diese Gedanken nicht mit der Vorstellung, ich sei nun ein Revolutionär. Sie waren christlicher Art, und wollte ich wirklich ihnen gemäß handeln, so hätte ich alle meine Habe den Armen geben müssen und so einfach leben müssen wie ein Bauer in Indien oder China. Die Kommunisten waren für mich schreckliche Leute, wie Kannibalen oder Wölfe, die sämtliche Städte der Welt zerstören und in den Ruinen ihr Unwesen treiben wollten. Ich hatte die Ansichten meiner Familie und deren Freunde in mich aufgenommen, die Revolutionen für die gleichen Katastrophen hielten wie Erdbeben. Die Sozialisten waren nur um ein weniges ungefährlicher als die Kommunisten. Ich lernte gewisse Gesichtspunkte auszuschalten, indem ich die Leute, die sie vertraten, für Verrückte oder Untermenschen hielt.
Als ich sechzehn Jahre alt war, kam ich in der Londoner Schule, die ich besuchte, in Berührung mit einem Lehrer und einem oder zwei Jungen, die Sozialisten waren. Der Lehrer war im Kriege gewesen, gehörte dem Club „1917" an und las den „Daily Herald". Seinen Worten nach war der Sozialismus kein Regiment des Schreckens und der Unvernunft. Er bedeute die Verstaatlichung der Industrien, damit sie Waren und Wohlstand erzeugten, die allen Menschen im Lande gehörten, anstatt nur wenigen; er bedeute die Abschaffung des auf Profit aufgebauten Systems des Wettbewerbs, das zu internationaler Rivalität des Handels und damit zum Kriege führe, und er wolle allen Kindern aller Klassen die gleiche Chance geben. Dies entsprach meiner primitiven Vorstellung von der sozialen Gerechtigkeit. Ein Junge, mit dem ich in der Schule befreundet war, hieß Maurice Cornforth; er las die Stücke Bernard Shaws und schrieb selber Stücke, die mir ebenso gut zu sein schienen wie die von Shaw. Cornforth hatte die Denkweise, die imstande ist, Dinge damit zu erklären, daß er sie in ein System von Ideen einordnet. Er rettete mich vom Anglo-Katholizismus nur, um mich in den Buddhismus zu tauchen. Er war Vegetarier und machte am Wochenende Änderungen von mehr als 40 oder 50 Kilometern pro Tag in Metroland. Er hatte struppiges Haar und einen struppigen Hund. Er beherrschte die Diskussionen in der Schule und beschrieb ganze Bögen von Papier mit seinen Stücken, Gedichten und Briefen.
Für Cornforth und mich war der Sozialismus nur eines von vielen Interessengebieten. Andere waren die moderne impressionistische Nachkriegsmalerei, das Theater, das Ballett und die Lyrik. In Wirklichkeit stellte der Sozialismus eine Abart neuzeitlicher Lebenshaltung dar, die sich durch rote Krawatten und Shaw-Bärte dokumentierte. So kam es, daß ich, als ich in Oxford war, mühelos die dort von den meisten meiner Freunde vertretene Auffassung übernahm, daß Kunst nichts mit Politik zu tun habe. Ich subtrahierte die Politik von meinen übrigen „fortschrittlichen" Ideen und blieb bei der Kunst um der Kunst willen. Die Jahre 1928, 1929 und sogar das Jahr 1930 scheinen mir heute in weiter Ferne und tiefem Frieden gelegen, und in Oxford war es möglich, menschliche Ungerechtigkeiten zu vergessen oder doch der Meinung zu sein, sie seien nicht Sache des „Dichters". Ich blieb Sozialist in der Art, wie gewisse Leute, die nie zur Kirche gehen, Katholiken bleiben. Eine Art von Rechtgläubigkeit ist in ihren Gemütern festgefroren. Sie wissen, daß sie da ist und daß sie eines Tages vielleicht schmelzen kann und sie in einen wildbewegten Kampf hineinstürzen mag; aber für den Augenblick scheint sie kaum in Beziehungen zu ihren Handlungen zu stehen.
Nachdem ich Oxford verlassen hatte, fuhr ich nach Deutschland. Dort erwachte der Gedanke, daß die Menschheit ein sozialer Kampf sei, wieder in mir. Beinahe jeder junge Deutsche, den ich kennenlernte, war arm und lebte mit wenig Geld, von der Hand in den Mund. Die Schranken zwischen den Klassen waren niedergebrochen. Sämtliche Klassen waren sich eines Schicksals der
Weitere Kostenlose Bücher