Ein Gott der keiner war (German Edition)
aller Entschiedenheit das Glück der Menschheit herbei. Er war jedoch unzugänglich für die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die „die Geschichte" in ihrem Verlauf beging. Ich halte es nicht für ungerecht zu sagen, daß diese sogar seinem ironischen literarischen Empfinden zusagten. Er hatte sich zu einem Leben revolutionärer Tat entschlossen, und damit betrachtete er die konkreten Ergebnisse einer solchen Tat aus der Ferne. Sein Denken war so ausschließlich auf die Zukunft gerichtet, daß alles, was in der Gegenwart geschah, für ihn meiner Meinung nach eine ebenso gleichgültige Angelegenheit war wie das Schicksal der Menschen, die vor zweihundert Jahren beim Erdbeben in Lissabon umgekommen waren. Er lebte in der Zukunft, und die Gegenwart gehörte für ihn einer finsteren vorrevolutionären Vergangenheit an. Was Chalmers von sich selber und von allen anderen verlangte, die sich „auf die Seite der Geschichte" stellten, war die Forderung, daß sie ihr gesamtes Denken und alle ihre Handlungen mit den Methoden identifizieren sollten, die zur Schaffung der klassenlosen Gesellschaft führten. Er verlangte, daß man die Gegenwart völlig einem von der Zukunft diktierten Ablauf von Handlungen unterwerfe.
Ich war meiner selbst Chalmers gegenüber sehr unsicher, als ich meine Abneigung gegen die Gewalt, mein Festhalten an der freien Meinungsäußerung bekannte und nichtsdestoweniger meinen Wunsch nach einer revolutionären Umwälzung eingestand, durch die eine sozial gerechte internationale Gesellschaft geschaffen werde, ohne daß dabei die Freiheit des Einzelmenschen vernichtet werde. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte mit freundlicher Prägnanz: „Gandhi."
Ich hatte vom Völkerbund gesprochen. Chalmers setzte mir auseinander, warum ein Idealismus, wie er vom Völkerbund verkörpert werde, nicht imstande sei, etwas zu tun, um den Krieg zu verhindern. Der Völkerbund sei eine Gesellschaft imperialistischer Mächte, die entschlossen seien, ihn als einen Vorwand zum Schutze – wenn nicht zur Erweiterung – ihrer eigenen Souveränität zu benützen. Die Nationen, die den Völkerbund benutzten, wären ihrerseits wieder die Werkzeuge für die Interessen der Rüstungsindustrie. Der Völkerbund sei in Wirklichkeit eine gegen Rußland gerichtete Allianz. „Unter dem gegenwärtigen System über Abrüstung zu reden, ist heller Unsinn."
Ein Teil unserer Unterredung befaßte sich mit dem Roman. Chalmers fand, wie eine große Anzahl kommunistischer Schriftsteller, daß ihm die Tatsache, ein Kommunist zu sein, den festen Boden seines Erlebnisses unter den Füßen fortnahm und ihm nur eine Theorie der Revolution übrigließ. Er war ein Abkömmling der Bourgeoisie, so wie er im kommunistischen Manifest dargestellt ist, der zu dem Proletariat „übergelaufen war". Politisch gesehen ist das eine Stellung, die sich verteidigen läßt (die meisten Führer der russischen Revolution kamen aus der Bourgeoisie), doch für den schöpferischen Künstler ist die Situation schwierig. Seine Empfindungswelt, für die der Grund in seiner Kindheit gelegt wurde, ist eine bürgerliche. Er kann kaum die Hoffnung hegen, durch einen politischen Willensakt eine Arbeiterklassenmentalität zu erwerben. Selbst wenn er dies täte, so würde er der Schwierigkeit gegenüberstehen, daß in Wirklichkeit die Arbeiterklasse in ihrer Mehrheit, von einigen klassenbewußten Arbeitern abgesehen, „bis nach der Revolution" noch bürgerlicher ist als die Bourgeoisie. Die Arbeiter legen keinen Wert auf den „proletarischen Roman". Einen revolutionären Roman zu schreiben, der den Kapitalismus angreift, erweist sich auch als ein künstlerisches Problem: Politische Aktivisten, die nur an eine politische Notwendigkeit denken, haben ihr Augenmerk mehr auf aktivistische Propaganda gerichtet als auf die Kunst, die sich auf das Erleben und die Beobachtung gründet und die unumgänglicherweise sowohl entmutigende als auch revolutionäre Charakterzüge mit einbeziehen muß. Chalmers gab diese Schwierigkeiten offen zu und führte rein theoretisch aus: „Ich glaube nicht, daß der Roman mit einem Helden aus der Arbeiterklasse und verruchten Kapitalisten die beste Art eines kommunistischen Romans darstellt. Eine bessere Art Roman könnte vielleicht der sein, in dem die kapitalistischen Charaktere sympathische Menschen guten Willens und die Kommunisten verbitterte und unsympathische Leute wären. Doch dieser Roman würde darauf abzielen, zu zeigen, daß die
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