Ein Gott der keiner war (German Edition)
ich. „Von einer Tätigkeit, die man Hochverrat nennt", antwortete der junge v. E. mit Pathos. Dann überstürzten sich seine Sätze. Vor einer Woche seien ihm plötzliche Bedenken hinsichtlich seiner „Zuträger-Rolle" gekommen. In der vergangenen, schlaflosen Nacht hätten sich diese Zweifel zur Gewißheit verdichtet; er sei ein Verräter und Spion. Die Alternative, vor der er stehe, sei, wie gesagt, entweder sich zu erschießen oder ein volles Geständnis abzulegen und die Folgen zu tragen.
Ich erklärte ihm, daß er völligen Unsinn rede, daß ein Spion ein Mensch sei, der militärische Unterlagen stehle oder Staatsgeheimnisse an eine fremde Macht verkaufe, während er weiter nichts verbrochen hatte, als einem Freund einigen Salonklatsch zuzutragen.
„Und was haben Sie mit den Informationen getan, die ich Ihnen gegeben habe?" fragte er mit einer Aggressivität, die neu bei ihm war.
„Ich habe sie meinen Freunden weitererzählt – soweit sie der Mühe wert waren."
„Freunden! Sie meinen: ausländischen Agenten."
Ich erklärte ihm, daß die KPD die Partei der deutschen Arbeiterklasse und genau so deutsch sei wie die Nationalsozialisten oder das katholische Zentrum. Nein, erwiderte v. E. hitzig, jedes Kind wisse, daß sie ein Werkzeug Sowjetrußlands sei.
Dummheit oder Scham?
Ich fragte mich erstaunt, was plötzlich in ihn gefahren sei. War er über Nacht Nationalsozialist geworden? Es zeigte sich jedoch, daß er seine politischen Sympathien nicht geändert hatte. Ihm war lediglich klargeworden, daß es zweierlei ist: Sozialist sein und Informationen an eine fremde Macht weiterleiten. Mit einem Achselzucken räumte er ein, daß wir in technischem Sinne wahrscheinlich keine Spione seien, doch das ändere nichts an der Tatsache, daß wir als ehrlose Verräter gehandelt hätten. Es sei ihm nicht möglich, weiterzuleben, ohne ein umfassendes Geständnis abgelegt zu haben, und er habe dieses Geständnis in der vergangenen Nacht niedergeschrieben. Er werde es aber nur mit meiner Zustimmung abschicken ... Mit diesen Worten legte er einen langen, handgeschriebenen Brief auf meinen Schreibtisch. Er umfaßte insgesamt acht Seiten und war an den Verlagsrektor gerichtet. E. forderte mich auf, ihn zu lesen.
Ich überflog die ersten zwei oder drei Zeilen: „Der Unterzeichnete hält es für seine Pflicht, Ihnen die folgenden Tatsachen zur Kenntnis zu bringen ..." Dann fiel mir das Weiterlesen so schwer, daß ich aufhörte. Der Junge, der vor meinem Schreibtisch stand – er hatte abgelehnt, sich hinzusetzen —, machte mit den schwarzen Bart – stoppeln in seinem bleichen Gesicht und den geschwollenen, blutunterlaufenen Augen einen beängstigenden Eindruck. Er übertrieb natürlich die Bedeutung der ganzen Sache und genoß vielleicht unbewußt die Heldenrolle, die er spielte; aber die meisten Selbstmorde werden aus ähnlich halbwüchsigen Motiven begangen, und soweit ich ihn kannte, war er imstande, mit seiner melodramatischen Drohung Ernst zu machen. – Die Situation wirkte auf mich teils komisch, teils peinlich. Komisch war sie insofern, als mir der junge v. E. seine eigene Bedeutung und die Tragweite dessen, was wir getan hatten, maßlos zu übertreiben schien; ich hatte noch immer das Gefühl, daß es sich dabei lediglich um eine nicht ganz ernst gemeinte politische Wichtigtuerei handelte. Und doch fühlte ich mich außerstande, mit ihm zu argumentieren oder auch nur den Brief zu lesen, obwohl dieser ja schließlich meine ganze Zukunft aufs Spiel setzte. Als ich später Edgar die Sache erzählte, konnte ich ihm nicht erklären, warum ich den Brief nicht weitergelesen hatte. Und gerade das war aller Wahrscheinlichkeit nach der Grund dafür, daß der Apparat mich als einen hoffnungslosen Fall aufgab. Heute läßt sich mein Verhalten natürlich leicht erklären: ich konnte es nicht über mich bringen, meinen Handlungen, die ich bisher stets durch einen Nebel dialektischer Euphemismen gesehen hatte, plötzlich schwarz auf weiß und ohne jede Verbrämung ins Gesicht zu sehen. Außerdem fühlte ich mich trotz meiner Überzeugung, daß v. E. ein Narr und Don Quichote sei, dem guten Jungen gegenüber schuldig und hatte Angst vor dem dramatischen Knall vor dem Spiegel. So stopfte ich den Brief in seine Tasche zurück und erklärte ihm, er solle ihn ruhig abgeben – er habe meinen Segen dabei – und sich zum Teufel scheren.
,,Wollen Sie damit wirklich sagen, daß Sie einverstanden sind?" fragte der Junge.
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