Ein Gott der keiner war (German Edition)
bolschewistischer Wachsamkeit. Ich sah die Verheerungen, welche die Hungersnot von 1932/33 in der Ukraine angerichtet hatte: Scharen von zerlumpten Familien bettelten auf den Bahnhöfen; Frauen hielten Kinder, die mit ihren abgemagerten Gliedern, ihren riesigen Leichenschädeln und aufgedunsenen Bäuchen wie Schaupräparate von Embryos aussahen, zu den Fenstern der Abteile empor; den alten Männern schauten die erfrorenen Zehen aus den zerrissenen Bastschuhen hervor. Aber man erklärte mir, sie seien Kulaken, die sich der Kollektivierung des Landes widersetzt hätten, und ich glaubte es; alle diese Elendsgestalten einschließlich der Kinder waren eben Feinde des Volkes, die es vorzogen zu betteln, statt zu arbeiten. Das Stubenmädchen im Hotel Regina in Charkow wurde beim Aufräumen meines Zimmers vor Hunger ohnmächtig; der Direktor erklärte mir, daß sie frisch vom Lande gekommen sei und infolge einer technischen Schwierigkeit noch keine Lebensmittelkarten erhalten habe; ich glaubte auch das. Ich konnte nicht umhin, die asiatische Rückständigkeit des Lebens zu bemerken, die Apathie der Menschenmenge auf den Straßen, in den Elektrischen und auf den Bahnhöfen; die unglaublichen Wohnverhältnisse, die alle Industriestädte wie ein einziges großes Elendsquartier erscheinen lassen – gewöhnlich bewohnen zwei oder drei Ehepaare ein Zimmer, das mit Wäscheleinen und darüber gehängten Tüchern aufgeteilt ist. Ich sah die Hungerrationen in den Kooperativen und erfuhr, daß der Preis für ein Kilogramm Butter auf dem Freien Markt dem Monatslohn eines durchschnittlichen Arbeiters, und der Preis für ein Paar Schuhe zwei Monatslöhnen entsprach. Aber ich hatte gelernt, daß Tatsachen nicht nach ihrem Nennwert zu beurteilen sind und daß man die Dinge nicht statisch, sondern im dynamischen Zusammenhang betrachten muß. Der Lebensstandard war ohne Zweifel niedrig; aber unter dem zaristischen Regime war er halt noch niedriger gewesen. Der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern ging es zwar besser als in der Sowjetunion, aber das war eben ein statischer Vergleich; denn hier in Sowjetrußland befand sich der Lebensstandard ja im Ansteigen, unter dem Kapitalismus dagegen im Sinken. Am Ende des zweiten Fünfjahresplanes würde der sowjetische Lebensstandard den kapitalistischen eingeholt und überholt haben; bis dahin waren alle Vergleiche irreführend und schädlich für die Moral des sowjetischen Volkes. Folglich nahm ich nicht nur die Hungersnot als unvermeidlich hin, sondern auch das Verbot von Auslandsreisen, ausländischen Zeitungen und Büchern und die Verbreitung eines grotesk verzerrten Bildes vom Leben in der kapitalistischen Welt. Zunächst war ich etwas befremdet, wenn mir nach einem Vortrag Fragen gestellt wurden wie etwa diese: „Wurden Ihnen, Genosse, nachdem Sie Ihren Posten bei der bürgerlichen Presse aufgaben, die Lebensmittelkarten entzogen und mußten Sie sofort aus Ihrem Zimmer ausziehen?" – „Wie viele französische Arbeiterfamilien sterben durchschnittlich jeden Tag den Hungertod: a) in ländlichen Gebieten, b) in den Städten?" – „Mit welchen Mitteln haben es unsere Genossen im Westen verstanden, vorläufig den Interventionskrieg abzuwenden, den die Finanzkapitalisten mit Hilfe der sozialfaschistischen Verräter vorbereiten?" Die Fragen waren stets mit peinlicher Sorgfalt im neo-russischen Djugaschwili-Stil gehalten. Nach einiger Zeit fand ich sie ganz natürlich. Sie enthielten stets ein Körnchen Wahrheit – das Körnchen war natürlich, nach den üblichen!. Propagandamethoden, ein bißchen übertrieben oder vereinfacht worden; aber für den Weiterbestand der von einer feindlichen Welt umgebenen Sowjetunion war Propaganda dieser Art eben eine unerläßliche Notwendigkeit.
Die notwendige Lüge und Verleumdung; die notwendige Einschüchterung der Massen zur Verhinderung kurzsichtiger Irrtümer; die notwendige Liquidierung aller Oppositionsgruppen und feindlichen Klassen; die notwendige Opferung einer ganzen Generation im Interesse der nächsten – all das mag ungeheuerlich klingen und war dennoch so leicht zu schlucken für den, der sich im Zustand der Gnade des absoluten Glaubens befand. Das alles war schon einmal dagewesen, in der Geschichte der mittelalterlichen Kirchen, in Byzanz, in der Treibhausatmosphäre mystischer Sekten; und dennoch ist die geistige Welt des Rauschgiftsüchtigen einem Außenstehenden gegenüber, der nie den magischen Kreis betreten und nie eine Partie
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