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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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einer neuen Welt arbeitete, von der alle hofften, daß sie menschlicher als die alte sein werde, war leidenschaftlich und echt. Um so bitterer war deshalb die Enttäuschung dieser jungen Menschen, als die Jahre vergingen, und zwar die neue Regierung an Stärke gewann, die Wirtschaft sich reorganisierte und die bewaffneten Interventionen des Auslandes aufhörten, die anfangs versprochene politische Demokratisierung jedoch ausblieb und statt dessen der diktatorische Charakter des Regimes immer stärker hervortrat
    Einer meiner besten Freunde, der damalige Führer der Kommunistischen Jugend Rußlands, Lazar Schatzky, vertraute mir eines Abends an, wie traurig er sei, zu spät geboren zu sein, so daß er weder an der Revolution von 1905 noch an der von 1917 habe teilnehmen können. „Es wird noch genug andere Revolutionen geben", tröstete ich ihn. „Revolutionen werden immer nötig sein, auch in Rußland." Wir standen auf dem Roten Platz, nicht weit von Lenins Mausoleum. „Was für Revolutionen?" wollte er wissen. „Und wie lange müssen wir noch darauf warten?" Ich wies auf das Mausoleum, das damals noch ein Holzbau war und an dem man jeden Tag endlose Prozessionen armer, zerlumpter Bauern vorbeidefilieren sah. „Ich nehme an, daß du Lenin liebst", meinte ich. „Auch ich habe ihn gekannt und erinnere mich noch sehr deutlich an ihn. Du wirst mir aber zugeben müssen, daß dieser abergläubische Kult mit seiner Mumie eine Beleidigung seines Andenkens und eine Schande für eine revolutionäre Stadt wie Moskau ist." Ich schlug ihm in knappen Sätzen vor, einige Kanister Benzin zu besorgen, um damit diese „Totem"-Baracke anzuzünden und auf eigene Faust eine kleine „Revolution" zu feiern. Aufrichtig gesagt, ich erwartete nicht, daß er meinen Vorschlag ohne weiteres annehmen, aber daß er wenigstens darüber lachen werde; statt dessen wurde mein armer Freund furchtbar blaß und begann zu zittern. Dann bat er mich, keine so scheußlichen Dinge mehr zu sagen, weder zu ihm noch zu anderen. (Zehn Jahre später sollte er als Mitschuldiger von Sinowjew verhaftet werden und beging Selbstmord, indem er sich aus seiner im fünften Stock gelegenen Wohnung stürzte). Ich habe mancher großen Parade auf dem Roten Platz beigewohnt, aber kein Eindruck blieb stärker in meinem Gedächtnis haften als die Erregung und die angstvolle Stimme dieses jungen Freundes, der ein so tragisches Ende nehmen sollte. Vielleicht ist „objektiv" betrachtet diese Erinnerung auch bedeutender.
    Die Geschichte der Komintern ist nicht leicht zu schreiben, und es wäre dazu zweifellos noch zu früh. Wie kann man in den endlosen Diskussionen auf ihren Kongressen und Zusammenkünften das Oberflächliche vom Wesentlichen unterscheiden? Welche dieser vielen Reden sollte man den Würmern zum Fraß überlassen und welche dem Studium intelligenter und um ein tieferes Verständnis bemühter Menschen empfehlen? Ich weiß es nicht Was mir persönlich besonders lebhaft in Erinnerung geblieben ist, wird vielleicht manchem nur bizarr erscheinen.
    Eine Sonderkommission der Exekutive diskutierte eines Tages über das Ultimatum, das der Zentralausschuß der englischen Gewerkschaften an seine örtlichen Sektionen gerichtet hatte und in dem unter Androhung des Ausschlusses jede Unterstützung der von Kommunisten geführten Minderheit verboten wurde. Der Vertreter der Kommunistischen Partei Englands hatte die Nachteile beider sich bietenden Lösungen dargelegt: entweder Auflösung der kommunistischen Gruppe oder ihr Austritt aus den Gewerkschaften. Daraufhin machte der russische Delegierte Piatnisky einen Vorschlag, der ihm so selbstverständlich wie das Ei des Kolumbus schien: „Die einzelnen Sektionen", riet er, „erklären, daß sie sich dem Ultimatum unterwerfen, und machen dann in der Praxis genau das Gegenteil." Der englische Kommunist unterbrach ihn: „Aber das wäre eine Lüge!" Diesen neuen Einwand begrüßte ein unbefangenes, herzliches, endloses Gelächter, wie es die düsteren Büros der Kommunistischen Internationale vielleicht noch nie gehört hatten. Es verbreitete sich in Windeseile durch ganz Moskau, denn man hatte die unglaublich komische Antwort des Engländers sofort an Stalin und alle wichtigen Staatsbehörden durchtelephoniert. Überall löste sie einen Sturm der Heiterkeit aus. Diese allgemeine Heiterkeit erst gab dem schüchternen und harmlosen Einwand des englischen Kommunisten seine volle Bedeutung, und deshalb erinnere ich mich auch

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