Ein Gott der keiner war (German Edition)
also verständlich, wenn Stalin einer Debatte über diese Vorgänge aus dem Wege zu gehen und sich hinter Gründen der Staatsräson zu verstecken suchte.)
Ernst Thälmann fragte mich, ob mir Stalins Erklärung befriedigend erscheine. „Ich streite dem Politbüro der Kommunistischen Partei Rußlands keineswegs das Recht ab, ein Dokument geheimzuhalten", sagte ich. „Ich begreife jedoch nicht, wie man andere auffordern kann, ein ihnen unbekanntes Dokument zu verurteilen." Die Entrüstung, die nach diesen Worten gegen mich und Togliatti losbrach, der mit mir übereinzustimmen schien, war grenzenlos, besonders auf seiten des schon erwähnten finnischen Delegierten und einiger Bulgaren und Ungarn. „Es ist unerhört", brüllte Kuusinen mit hochrotem Kopf, „daß es hier in der Zitadelle der Weltrevolution noch solche Kleinbürger gibt." Er sprach das Wort Kleinbürger mit einem sehr komischen Ausdruck der Verachtung und des Widerwillens aus. Allein Stalin blieb ruhig und unerschütterlich. Er sagte: „Wenn ein einziger Delegierter gegen den Resolutionsentwurf ist, darf er nicht eingebracht werden ... Vielleicht sind die italienischen Genossen über unsere interne Situation nicht ganz auf dem laufenden. Ich schlage vor, daß die Sitzung bis morgen vertagt und einer der Anwesenden damit beauftragt wird, die italienischen Genossen heute abend über unsere interne Situation aufzuklären."
Die höchst undankbare Aufgabe wurde dem Bulgaren Kolaroff übertragen, der sich jedoch sehr takt- und humorvoll seiner schwierigen Mission entledigte. Er lud uns zum Tee auf sein Zimmer im Hotel Lux, wo er ohne große Vorreden kühn auf das heikle Thema lossteuerte: „Sprechen wir offen", sagte er lächelnd. „Glaubt ihr, ich hätte das Dokument gelesen? Nein, ich habe es nicht gelesen. Um die Wahrheit zu sagen, es interessiert mich überhaupt nicht. Muß ich euch noch mehr sagen? Selbst wenn mir Trotzki heimlich eine Abschrift zusenden sollte, würde ich mich weigern, es zu lesen. Liebe italienische Freunde, hier handelt es sich nicht um Dokumente. Ich weiß wohl, daß Italien das klassische Land der Akademien ist, aber wir befinden uns hier nun einmal nicht in einer Akademie. Wir stehen hier mitten im Machtkampf zweier rivalisierender Gruppen der russischen Führerschaft. Welcher der beiden Gruppen wollen wir uns anschließen? Das ist die Frage. Dokumente haben damit nichts zu tun. Es geht nicht um die Erforschung der historischen Wahrheit, warum die chinesische Revolution gescheitert ist. Es geht um den Machtkampf zweier unversöhnlicher Gegner. Wir müssen wählen. Ich für mein Teil habe schon gewählt. Ich bin für die Mehrheit. Was auch immer die Minderheit sagt oder tut, welche Dokumente sie auch immer gegen die Mehrheit abfaßt, ich bin, das wiederhole ich euch, für die Mehrheit. Dokumente interessieren mich nicht. Wir sind hier in keiner Akademie." Er goß uns Tee ein und betrachtete uns wie ein Schulmeister, der zwei schwer erziehbare Jungen zur Räson zu bringen hat. „Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?" fragte er mich. „Gewiß", antwortete ich, „sehr deutlich." „Habe ich dich überzeugt?" fragte er noch einmal. „Nein", erwiderte ich. „Und warum nicht?" wollte er wissen. „Ich müßte dir dazu erst erklären", sagte ich, „warum ich gegen den Faschismus bin." Kolaroff wollte gerade losbrausen, als Togliatti seine Meinung in maßvolleren, aber ebenso entschiedenen Worten ausdrückte. „Man kann sich hier nicht einfach für die Mehrheit oder Minderheit entscheiden. Man kann sich nicht ohne weiteres über den eigentlichen Inhalt der Frage hinwegsetzen." Kolaroff hörte ihn mit einem mitleidig-wohlwollenden Lächeln an. „Ihr seid noch zu jung", sagte er und begleitete uns zur Tür. „Ihr habt noch nicht begriffen, was Politik bedeutet."
Am nächsten Morgen wiederholte sich im Senioren-Konvent die Szene vom vorhergehenden Tage. Das kleine Zimmer, in dein ein Dutzend Personen beieinander hockten, war von einer ungewöhnlichen Nervosität beherrscht. Stalin fragte Kolaroff: „Hast du den italienischen Genossen erklärt, worum es geht?" – „In aller Ausführlichkeit", versicherte der Bulgare. „Wenn ein einziger Delegierter gegen den Resolutionsentwurf stimmt", wiederholte Stalin, „kann er in der Plenarsitzung nicht eingereicht werden. Eine Resolution gegen Trotzki muß einstimmig gefaßt werden. Stimmen die italienischen Genossen", fuhr er fort, und wandte sich zu uns, „für den
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