Ein Grausames Versprechen
Lauren bezweifelte, dass sie sich beherrschen konnte, vor allem heute Abend. Ständig vermischten sich in ihren Gedanken der Zwischenfall mit dem Ice-Süchtigen und die Auseinandersetzung mit Thomas in der Gasse. Sie versuchte, im Geiste die Unterschiede herauszustreichen - damals war es Nacht gewesen, heute Tag; damals war sie allein gewesen, heute hatte sie Joe bei sich gehabt. Aber die Geschichte traf sie auf einer tieferen Ebene, auf der Erinnerungen an den Geruch von Angstschweiß und an Adrenalinstöße aufbewahrt wurden. Körpergedächtnis. Selbst hier in der Küche konnte sie nun beinahe Thomas’ Faust unter ihrem Kinn spüren. Sie berührte die Stelle und schauderte. »Ich glaube, ich gehe einfach ins Bett.« Sie stieß die staubige Flasche mit den Fingerspitzen ganz nach hinten ins Regal.
»Deine Milz«, sagte Kristi.
Lauren machte das Licht in der Küche aus und ging an ihr vorbei. »Gute Nacht.«
Um vier Uhr erwachte sie von einem Albtraum. Sie war wieder zu dem Autounfall gekommen, hatte Kristi betrunken, schwanger und weinend in dem einen Wagen vorgefunden und den sterbenden Jungen im andern. Mit dem Traum kam der schale Geschmack ihres alten Lebens, die Stille in ihrer engen Mietwohnung, die nur vom Klirren der Flasche am Glas unterbrochen wurde, die Einsamkeit, nachdem Jeffrey sie für seine Schauspielkarriere in Großbritannien verlassen hatte, die Unfähigkeit, aus dem Haus zu gehen und neue Leute kennenzulernen, wie Zeitschriften, Arbeitskollegen und ihr Arzt es ihr nahelegten.
Sie stieg aus dem Bett und ging in Felises Zimmer. Das Kind war ein aktiver Schläfer, und während Lauren neben ihrem Bett stand, drehte sich Felise von der linken Seite auf die rechte, dann auf den Bauch, und strampelte schließlich die Decke fort, ehe sie sich zu einer Kugel zusammenrollte. Lauren deckte sie wieder zu und strich ihr eine Locke hinter das Ohr.
Als sie sich zum Gehen wandte, stand Kristi in der Tür. Sie streckte die Hand aus und berührte den schweißnassen Rücken von Laurens Pyjamahemd.
»Sag es nicht.« Lauren gab ihr einen Kuss auf die Wange, als sie an ihr vorbeiging. Kristi seufzte.
Wieder in ihrem Bett konnte Lauren nicht einschlafen. Als sie sich schließlich fest in die Decke wickelte, erinnerte der Kontakt sie an die Berührung von Joes Rücken an ihrem. Mit dieser Vorstellung fand sie endlich Ruhe.
»Arbeitest du heute nicht?«, fragte Tante Adelina.
»Nachmittagsschicht.« Ella saß halb auf dem Sitz der Gehhilfe ihrer Mutter, dem einzigen Platz, der noch frei gewesen war, als sie kam. Auf der Krankenstation war es stickig, Gespräche auf Englisch, Arabisch und Italienisch erfüllten die Luft. Ihre Mutter Netta saß aufrecht im Bett, Ella thronte auf der einen Bettseite, ihr Vater Franco und Adelina hatten auf der anderen auf Plastikstühlen Platz gefunden. Ein Kleinkind in Windel und Hemdchen hangelte sich von Bett zu Bett, indem es sich an Stühlen festhielt. Eine Frau mit Kopftuch sah, dass Ella den Kleinen beobachtete, und lächelte ihr zu. Ella erwiderte das Lächeln.
Auf der anderen Seite des Zimmers wurden Stimmen lauter. Ihr Vater neigte den Kopf. »Hörst du das, Netta?«
»Dad, hör auf zu lauschen.«
»Wie denn, wenn sie so laut reden?« Ihre Mutter wechselte im Bett vorsichtig die Stellung. Ihr stahlgraues Haar lag zerzaust auf dem Kissen. Ihr Nachthemd war bis zum Hals zugeknöpft.
»Das Italienisch geht mir eben direkt ins Ohr.« Er wies mit beiden Zeigefingern auf seine Ohren. »Ich kann nichts dagegen tun.«
»Schalt einfach das Hirn aus«, sagte Adelina. »So mache ich es immer.«
»Das ist bei deinem Hirn ja nicht schwer.« Franco grinste. Adelina gab ihm einen Klaps auf den Arm. Ella fragte sich manchmal, wie es wäre, einen Bruder zu haben, der einen so aufzog, der selbst mit siebzig noch mit einem scherzte. Adelina hatte nie geheiratet, und Ellas Vater wohnte bei ihr in ihrem Haus in Sutherland, während Netta im Krankenhaus war. Franco wäre gern zu Hause geblieben, aber er war in schlechter Verfassung, selbst auf eine Gehhilfe angewiesen und konnte außer Fertigsuppen nichts kochen.
Adelina schaute auf den Nachttisch. Im nächsten Moment sprang sie auf, zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und begann, die Oberfläche abzuwischen »Stauben die hier nicht ab?«
»Sag ich doch immer«, erwiderte ihre Mutter. »Es ist nicht gut für mich, wenn ich hierbleibe.«
Ella wies mit einem Nicken auf den Infusionsschlauch, über den sie ihre Antibiotika
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