Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ich zu träumen. Freilich, das zu erwähnen lohnt sich kaum, aber ich hatte nur das Bedürfnis, darauf hinzuweisen, in welche Ferne manches zurückreicht …
“Hier gibt es nur einen einzigen ernsthaften Einwand.” Ich setzte mich wieder in Bewegung, immer noch träumend. “Oh, natürlich, der unbedeutende Altersunterschied kann kein Hindernis sein, aber etwas anderes: Sie ist eine echte Aristokratin, ich aber bin einfach ein Dolgorukij! Schlimmer könnte es nicht sein! Hm! Werssilow könnte höchstens, wenn er Mama heiratet, ein Gesuch an die Regierung richten und mich adoptieren … Um … um der Verdienste des Vaters willen, sozusagen … Er hat doch gedient, folglich muß er Verdienste haben; er war Friedensrichter … Oh, hol’s der Teufel, wie abscheulich!”
Das rief ich plötzlich aus und blieb plötzlich zum dritten Mal stehen, aber diesmal wie vom Schlag getroffen. Das geballte, quälende Gefühl einer Erniedrigung durch das Bewußtsein, daß ich mich auf eine solche Schmach wie die Namensänderung durch Adoption einlassen könnte, dieser Verrat an meiner ganzen Kindheit – dies alles vernichtete in einem Augenblick meine ganze vorherige Stimmung, und mein ganzer Jubel verflog wie Rauch. “Nein, das werde ich niemand verraten”, dachte ich schamrot, “ich habe mich deshalb so erniedrigt, weil ich … verliebt bin und dumm … Nein, sollte Lambert irgendwo recht haben, dann darin, daß heute solche Albernheiten überflüssig sind, daß es heute, in unserem Zeitalter, nur auf den Menschen ankommt und dann auf sein Geld. Das heißt, nicht auf sein Geld, sondern auf seine Macht. Mit einem solchen Kapital stürze ich mich in meine ›Idee‹, und ganz Rußland wird in zehn Jahren in allen Nähten krachen, und ich werde mich an allen rächen, und mit ihr brauche ich keine Umstände zu machen. Darin hat Lambert wiederum recht. Sie bekommt es mit der Angst zu tun und wird mich heiraten. Sie wird auf die einfachste und banalste Weise mitmachen und mich heiraten. ›Du weißt nichts, du hast keine Ahnung, in welcher Besenkammer das war‹”, fielen mir Lamberts Worte von vorhin wieder ein. “Und das ist so”, bekräftigte ich, “Lambert hat in allem recht, tausendmal mehr als ich und Werssilow und alle diese Idealisten! Er ist ein Realist. Sie wird sehen, daß ich Charakter habe. Sie wird sagen: ›Er hat ja Charakter!‹ Lambert ist ein Schurke, ihm geht es nur um die Dreißigtausend, die er einstreichen will, aber trotzdem ist er der einzige Freund, den ich habe. Eine andere Freundschaft gibt es nicht, und es kann sie nicht geben, das haben sich nur Menschen ausgedacht, die vom praktischen Leben keine Ahnung haben. Und für sie bedeutet das sogar keine Erniedrigung; habe ich denn vor, sie zu erniedrigen? Keineswegs: Alle Frauen sind so! Gibt es denn eine Frau ohne Niedertracht? Deshalb braucht sie einen Mann, deshalb ist sie auch als untergeordnetes Wesen geschaffen. Die Frau ist Laster und Verführung, der Mann – Tugend und Großmut. Und so wird es in alle Ewigkeit bleiben. Und daß ich mir vornehme, das ›Dokument‹ ins Spiel zu bringen, hat nichts zu bedeuten. Es widerspricht weder der Tugend noch der Großmut. Ein Schiller pur kommt einfach nicht vor, den hat man erfunden. Was macht schon ein bißchen Schmutz aus, wenn das Ziel prächtig ist?! Die Zeit wäscht alles ab, macht alles glatt. Und jetzt gilt nur die Weite, nur das Leben, wie es ist, nur die Realität – so heißt das jetzt!”
Oh, ich wiederhole nochmals: Man möge mir verzeihen, daß ich dieses ganze damalige weinselige Galimathias im Wortlaut wiedergebe. Natürlich ist das nur die Essenz meiner damaligen Gedanken, aber mir ist es so, als hätte ich sie sogar in diese Worte gekleidet. Ich mußte sie wiedergeben, weil ich mich zum Schreiben gesetzt habe, um zu einem Urteil über mich zu kommen. Und worüber sollte man zu Gericht sitzen, wenn nicht über einen solchen Fall? Kann es denn im Leben einen ernsteren geben? Der Wein war kein mildernder Umstand. In vino veritas.
Träumend und gänzlich in Phantasien versunken, merkte ich nicht, daß ich schon bei unserem Haus, das heißt bei Mamas Wohnung, angelangt war. Ich merkte es nicht einmal, daß ich die Wohnung betrat; aber kaum war ich in unserer winzigen Diele, als ich begriff, daß bei uns etwas Außergewöhnliches eingetreten war. In den Zimmern wurde laut gesprochen, gerufen, und Mama, wie zu hören war, weinte. In der Tür hatte Lukerja, die stürmisch aus dem
Weitere Kostenlose Bücher