Ein guter Blick fürs Böse
ich auch nicht«, gestand ich. »Aber wenn ich geradewegs zu Superintendent Dunn laufe und er schickt Morris oder sonst jemanden zu Jenkins, dann wäre es durchaus möglich, dass diese geheimnisvolle Klientin von Jenkins verschwindet und nie wieder auftaucht. Wir kennen nicht einmal ihren Namen. Wir wissen nur, dass sie Französin ist. Wenn sie es mit der Angst zu tun bekommt, flüchtet sie schnurstracks nach Hause, nach Frankreich.«
»Was wollte sie überhaupt von unserem Mr. Thomas Tapley?«, fragte Bessie. »Und warum will sie jetzt unbedingt mit seinem Cousin Mr. Jonathan Tapley in Kontakt treten? Sie wollte vorher nichts mit ihm zu tun haben, jedenfalls nicht, nachdem sie herausgefunden hat, dass er Anwalt ist. Wenn Sie mich fragen, sie hat etwas zu verbergen. Das ist der Grund, aus dem sie sich außer Sichtweite hält.«
»Das wissen wir erst, wenn sie es uns erzählt – oder der Polizei. Und das wird nur geschehen, wenn Jenkins sie auftreiben kann. Ich werde tun, was ich Jenkins versprochen habe, und warten. Wenn der Inspector nicht heute Abend aus Harrogate zurückkehrt, werde ich morgen früh gleich als Erstes zu Superintendent Dunn gehen. Wir müssen das Risiko eingehen, die Lady zu verlieren.«
Während ich sprach, passierten wir einen Mann, der in einer Ecke stand und auf einem Apfel kaute. Seine Knickerbocker und sein Filzhut kamen mir irgendwie bekannt vor.
»Zuerst fasst er jedes einzelne Stück in der Auslage an«, murmelte Bessie, die ihn ebenfalls wiedererkannt hatte. »Und dann kauft er nur einen einzigen Apfel von dem armen Mann. Man sollte wirklich meinen, das wäre auch mit weniger Aufhebens gegangen.«
Ihre Bemerkung brachte mich dazu, den Kopf nach dem Fremden zu drehen, und ich begegnete seinem Blick. Seine Augen waren auf mich fixiert. Es waren sehr große, dunkle Augen mit einem spöttischen Glitzern darin. Er starrte mich so unverhohlen an, so taxierend und persönlich , dass ich verlegen wurde. Normalerweise lasse ich mich nicht aus der Fassung bringen, wenn ich angestarrt werde. Nicht, wie ich hinzufügen möchte, dass ich allzu viele Blicke von der offen bewundernden Sorte anziehe. Ich halte mich nicht für unattraktiv, doch ich war nie eine Schönheit von der Sorte, nach der sich alle umdrehen. Genauso wenig, wie der Bursche selbst weder besonders attraktiv noch sonderlich jung gewesen wäre. Er hatte einen dicken schwarzen Backenbart, und seine Haut war von einem hellen Olivton, wie man ihn in England kaum zu sehen bekam. Vielleicht war das der Grund, aus dem er einen Tweedanzug trug – vielleicht dachte er, damit weniger ausländisch zu erscheinen.
Er hatte meine Verlegenheit bemerkt, und das schien ihn zu amüsieren. Er grinste und entblößte dabei kräftige weiße Zähne, und dann biss er mit hörbarem Knirschen erneut in den Apfel.
Ich eilte an ihm vorüber mit einem Gefühl, das ich nicht genau erklären konnte, und ich verspürte nicht die geringste Lust, mich näher damit zu befassen.
KAPITEL ZEHN
Inspector Ben Ross
Man hatte mich angewiesen, am Bahnhof nach Inspector Barnes Ausschau zu halten, meinem Kollegen in Harrogate. Ich fragte mich während meiner Reise, woran ich ihn erkennen sollte. Wie sich herausstellte, war er kaum zu übersehen, denn er war größer als jeder andere dort. Er hatte mich entdeckt und identifiziert, noch bevor ich einen Fuß auf den Bahnsteig gesetzt hatte, und stürzte auf mich zu.
»Sie müssen der Kollege aus London sein!«, dröhnte er und packte meine Hand. »Ross, wenn ich mich nicht irre?«
»Das ist richtig«, ächzte ich und zog meine Finger behutsam zurück. »Und Sie sind Inspector Barnes?«
»Höchstpersönlich! Bevor wir irgendetwas anderes machen – was denken Sie von dieser Bahnstation?« Er deutete mit einer massigen Pfote auf unsere Umgebung. »Wir sind sehr stolz darauf, wissen Sie? Es gibt sie noch nicht so lange, erst sechs Jahre. Davor hielten die Züge in der alten Brunswick Station, und verglichen mit diesem Bahnhof hier war Brunswick nicht viel mehr als ein Gartenschuppen. Sie haben nur die eine Tasche, nehme ich an?«
Er steuerte mich flinken Schrittes durch die Menge, während wir uns unterhielten. Es gelang mir zu erwähnen, dass die Station sehr geschäftig wirkte.
»Viele Leute kommen zu uns nach Harrogate«, informierte mich Barnes. »Das ist ja auch der Grund, aus dem wir einen neuen Bahnhof brauchten. Es ist wegen der Mineralquellen, wissen Sie? Viele Leute schwören auf ein Pint aus Harrogate.
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