Ein guter Jahrgang-iO
Bitte treten Sie ein.«
Max brauchte einen Moment, um sich von seiner Überraschung zu erholen, bevor er aufsprang und die ausgestreckte Hand schüttelte. Maître Auzet war trotz des formalen männlichen Titels ganz entschieden weiblich: jung, schlank, mit olivfarbener Haut und Haaren von einem tiefen, feurigen Hennarot, das man so nur in Frankreich findet. Sie trug ein Kostüm, das selbst in Paris nicht fehl am Platz gewesen wäre, und ihre atemberaubenden Beine steckten in Schuhen mit gleichermaßen atemberaubenden Highheels.
»Monsieur Skinner?« Seine offenkundige Fassungslosigkeit schien sie zu belustigen. »Stimmt etwas nicht?«
Max schüttelte den Kopf und murmelte eine Entschuldigung in der Art, dass er Mr. Chapman, seinen englischen Anwalt, noch nie in hochhackigen Schuhen gesehen habe, bevor er ihr in das Allerheiligste folgte. Im Gegensatz zum kargen und nachgerade schäbigen Arbeitsumfeld ihrer Sekretärin wies das Büro von Maître Auzet beträchtliche Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Erscheinungsbild auf: elegant, modern und in edlen Beige- und dunklen Brauntönen gehalten. Der Schreibtisch war leer bis auf einen Laptop, ein Notepad, eine Vase mit Pfingstrosen und ein Kristallglas mit einem ganzen Strauß Mont-Blanc-Kugelschreiber.
»Darf ich Sie bitten, sich auszuweisen?« Sie lächelte abermals. »Reine Formsache.« Max reichte ihr seinen Pass. Sie setzte eine Lesebrille auf, bevor sie abwechselnd das Foto und den Menschen aus Fleisch und Blut musterte, der ihr gegenübersaß; dann blickte sie kopfschüttelnd von einem zum anderen. »Diese Passbilder sind nie besonders schmeichelhaft, finden Sie nicht auch? Ich frage mich, warum.« Sie schob den Ausweis über den Schreibtisch und holte einen dicken Aktenordner und eine Reihe großer, altmodischer Schlüssel aus der Schublade, die von einem Bindfaden zusammengehalten wurden.
Sie begann, den Inhalt des Ordners durchzublättern, wobei sie Passagen aus verschiedenen Dokumenten vorlas. Max hörte nur mit halbem Ohr hin, er war mit seinen Gedanken weit weg von den juristischen Spitzfindigkeiten und nutzte die Gelegenheit, die Notarin, die den Kopf gesenkt hatte, genau zu betrachten: den allerleisesten Hauch eines Brustansatzes an der Stelle, wo sich die Seidenbluse beim Vorbeugen vom Körper getrennt hatte; die Haut mit ihrem warmen mediterranen Schimmer; die wunderbaren Haare; die zarten Hände und die schmalen Finger mit den glänzenden Nägeln - ohne Nagellack und, wie ihm sofort auffiel, auch ohne Ehering. Vielleicht hatte sich das Blatt tatsächlich zu seinen Gunsten gewendet. Er suchte angestrengt nach einem überzeugenden Vorwand, sie auf weniger geschäftlicher Ebene wiederzusehen.
»...und deshalb müssen Sie sich nicht den Kopf über die Vermögenssteuer zerbrechen. Sie ist erst im November fällig.« Sie schloss den Aktenordner und schob ihn zusammen mit den Schlüsseln über den Tisch. » Voilà.«
Dann wandte sie sich dem Notepad zu, auf dem sie sich einige Notizen gemacht hatte.
»Bedauerlicherweise« - ihre Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund, wie um die Belastungen im Leben eines notaire zu unterstreichen - »gehen Erbschaftsangelegenheiten nie ohne das eine oder andere kleine Problem über die Bühne.« Sie sah Max über den Rand ihrer Brille an, den Kopf anmutig zur Seite gelegt. »Eines haben Sie gerade aus meinem Büro stürzen sehen, während Sie warteten.«
Max dachte an den finster dreinblickenden Landarbeiter. »Er kam mir nicht besonders glücklich vor. Wer ist der Mann?«
»Claude Roussel. Er hat für Ihren Onkel gearbeitet.«
Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das war also Roussel, ein älterer Roussel, mit mehr Leibesfülle, weniger Haaren und von Wind und Wetter gegerbter Haut, aber eindeutig derselbe Mann, dem er als Kind im Haus seines Onkels begegnet war. »Warum war er so aufgebracht?«
Maître Auzet warf einen Blick auf ihre goldene Uhr. »Das zu erklären ist ziemlich kompliziert, und heute fehlt mir die Zeit...«
Max hob die Hand. »Ich hatte gerade eine hervorragende Idee.«
Sie sah ihn mit einem halben Lächeln an.
»Wie wäre es mit morgen? Mittagessen. Sogar Notaires müssen zu Mittag essen, oder?«
Sie nahm ihre Brille ab und zögerte einen Moment, bevor sie mit der Schulter zuckte. »Ja, schon.«
Max erhob sich und deutete eine knappe Verbeugung an, um nicht noch mehr von ihrer kostbaren Zeit in Anspruch zu nehmen. »Also dann, bis morgen.« Er schickte sich zum Gehen an.
»Monsieur
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