Ein guter Jahrgang-iO
ausholenden Bewegung auf das Regal hinter ihr. » Lequel? Ricard? Casanis? Bardouin? Janot? Pernod ?« Max zuckte hilflos mit den Achseln, und sie lächelte über seine Verwirrung. »Alors un Ricard.« Sie goss einen großzügig bemessenen Schluck in ein Glas und stellte es auf die pockennarbige Zinktheke, neben einen Krug, an dem die Feuchtigkeit abperlte. Er füllte sein Glas mit Wasser auf und nahm an einem Tisch auf der Terrasse Platz. Der Kneipenhund leistete ihm Gesellschaft, legte den Kopf auf seine Knie und sah ihn mit großen seelenvollen Augen an, die ihn an Charlie erinnerten.
Max nahm den ersten Schluck des milchigen, scharfen und erfrischenden Anisgetränks und wunderte sich, warum es hier um Klassen besser schmeckte als in London, wo er den Konsum auf wenige Male beschränkt hatte. Natürlich spielte die Hitze eine Rolle; es war ein Durstlöscher. Auch das Ambiente fiel ins Gewicht. Pastis trank man am besten in Kombination mit dem Klicken der boules- Kugeln und dem melodischen Klang französischer Stimmen. Ohne Anzug und Socken würde er noch besser schmecken, dachte er. Er holte den Brief des notaire heraus und überflog ihn. Charlies Worte kamen ihm wieder in den Sinn: ein neues Leben... du könntest auf einer Goldmine sitzen... Boutiqueweine sind groß im Kommen.
Als er zur gegenüberliegenden Seite des Dorfplatzes hinüberspähte, sah er, wie die letzten Gäste das Restaurant verließen, angesichts der Hitze zusammenzuckten und ihre Sonnenbrillen zurechtrückten, bevor sie sich mit dem langsamen, watschelnden Gang einer gemästeten Gänseschar auf den Weg machten, den zweiten Teil ihres Arbeitstages mit Würde hinter sich zu bringen. Einer von ihnen, ein Mann mit Wohlstandsbauch und Zigarrenstumpen, verschwand in der Straße, die zur Kanzlei des notaire führte. Vermutlich der Notar höchstpersönlich, dachte Max. Er leerte sein Glas und stand auf. Es war Zeit, zu gehen und zu erben.
Die Kanzlei befand sich am anderen Ende der Straße, kurz bevor das Dorf endete und die Weinfelder begannen, in einem kleinen Haus mit geschlossenen Fensterläden und mit einer Messingplakette an der Eingangstür. Max läutete.
» Oui?«, ertönte die blecherne und mürrische Stimme. Die Störung war wohl auch dieses Mal unerwünscht. Max nannte seinen Namen, hörte, wie die Tür aufsprang, und trat ein.
Sie saß hinter einem großen altmodischen Schreibtisch, auf dem sich Berge von Akten stapelten, eine Frau mittleren Alters mit einer Dauerwelle, die wie gemauert aussah und sich in der Jugendzeit ihrer Mutter großer Beliebtheit erfreut hatte. Die Dame rang sich ein Lächeln ab, verwies Max mit einer Handbewegung auf den hintersten Winkel des Raumes, wo zwei Stühle mit harten Rückenlehnen standen. Maître Auzet werde gleich Zeit für ihn haben, teilte sie ihm mit und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Akten zu.
Er nahm eine Zeitschrift von dem Tisch, der zwischen den beiden Stühlen stand, eine mit Eselsohren verzierte, ein halbes Jahr alte Ausgabe von Coucou. Das Sensationsblatt, geradlinig wie immer bei der Auswahl der redaktionellen Enthüllungen, brachte die neuesten Mutmaßungen über die üblichen Verdächtigen: Stephanie von Monaco und die derzeit aktuelle Hollywood-Legende, Jean-Paul Belmondos Sohn, Prinz William und Altrocker Johnny Hallyday. Frisch verliebt oder entliebt war völlig egal - die Promis führten ein Leben, das die Menschen in den Wartezimmern in den Bann zu schlagen vermochte.
Der Klang einer aufgebrachten lauten Stimme, die hinter der Tür des mutmaßlichen Allerheiligsten von Maître Auzet erschallte, riss Max aus dem spannenden Exklusivinterview mit Brasiliens Schönheitschirurgen Nummer eins. Dann folgte ein letztes hoch explosives Brummen, bevor die Tür aufgerissen wurde. Ein Mann von kräftiger Statur und mit dem sonnengerösteten Teint eines Landarbeiters stapfte aus dem Büro und warf Max einen funkelnden Blick von der Seite zu. Die Sekretärin sparte sich die Mühe, von ihren Papieren hochzublicken. Das Gesicht des Mannes kam Max, wenn auch sehr vage, vertraut vor, aber er konnte es nicht einordnen. Er kehrte zu dem Artikel über den brasilianischen Fassadenbauer zurück, der offenbar gerade erst einen Aufsehen erregenden Durchbruch auf dem Gebiet des Kehrseiten-Lifting erzielt hatte.
Kurz darauf klapperten Absätze über den Fliesenboden, und Maître Auzet erschien, ein Lächeln zur Begrüßung auf den Lippen. »Monsieur Skinner? Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.
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