Ein guter Jahrgang-iO
als der Aktienmarkt, besonders in unserer heutigen Zeit. Sie stellen mehr dar als Flaschen mit einer Flüssigkeit, wie phantastisch diese auch sein mag. Sie stellen eine Investition dar.«
Bei der Erwähnung dieses elektrisierenden Begriffes besserte sich die Stimmung im Raum beträchtlich, und die Einkäufer sahen gebannt zu, wie der Franzose zum Tisch ging, abermals seine Manschetten zurechtrückte und eine der Flaschen in die Hand nahm. Er goss gerade etwas in ein Glas, hielt dieses gegen das Kerzenlicht und inspizierte die Farbe. Dann nickte er bedächtig und zufrieden, beugte den Kopf, wirbelte den Wein im Glas herum, hob ihn an die Nase und schloss die Augen, während er tief einatmete. »Quel bouquet«, murmelte er, gerade laut genug, um gehört zu werden. Die Einkäufer verharrten in angemessenem ehrfürchtigem Schweigen, als ob sie einen Mann vor sich sähen, der im Gebet versunken war.
»Bon.« Der Bann war gebrochen, als der Franzose begann, die übrigen Gläser zu füllen. Freude strahlend nahm er seinen Monolog wieder auf.
»Heute erleben Sie die erste Verkostungsrunde für diesen Jahrgang, und Sie, meine Freunde aus Asien, sind die Ersten, die ihn kosten dürfen. In der nächsten Woche werden unsere Freunde aus Amerika uns die Ehre geben, und danach unsere Freunde aus Deutschland.« Er seufzte. »Hoffen wir, dass genug für alle da ist. Ich hasse es, wahre Kenner enttäuschen zu müssen.«
Unbemerkt von der Gruppe war eine weitere Gestalt lautlos in den Verkostungsraum geschlüpft: eine grazile, junge, blonde Frau in einem maßgeschneiderten grauen Kostüm mit einem atemberaubend kurzen Rock.
»Ah«, sagte der Franzose und sah beim Einschenken hoch. »Darf ich Ihnen meine Assistentin vorstellen, Mademoiselle de Salis.« Sämtliche Köpfe schnellten herum, dann folgte eine abermalige Drehung mit Blick auf die Beine. »Vielleicht wären Sie so freundlich, meine Liebe, mir beim Verteilen der Gläser zu helfen.«
Sämtliche Einkäufer, die sich um den Tisch geschart hatten, nahmen ein Glas, wobei sie darauf achteten, den Boden mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger fachmännisch zu fassen. Wie ein eingespieltes Team, das den Bewegungsablauf des Rituals in- und auswendig kannte, wirbelten sie ihren Wein umher, hoben die Gläser ans Kerzenlicht und beäugten respektvoll die Farbe.
»Eine dunklere Farbe als der gewöhnliche Bordeaux«, verkündete einer der Einkäufer.
Der Franzose lächelte. »Was für ein scharfes Auge Sie haben, Monsieur Chen. Er ist insgesamt gehaltvoller als ein ochsenblutroter Rubin. Eher mit Samt als mit Wolle zu vergleichen.«
Monsieur Chen speicherte den Vergleich in seinem Gedächtnis ab, zur späteren Verwendung. Seine weniger fachkundige Klientel war immer schwer beeindruckt von solchen Formulierungen, je bombastischer desto besser.
»Zeit, Ihre Nasen arbeiten zu lassen, meine Herren.« Der Franzose ging mit gutem Beispiel voran und beugte den Kopf über sein Glas; im Raum wurde es totenstill bis auf das leise Geräusch, das entsteht, wenn weingeschwängerte Gerüche in zwanzig aufnahmebereite Nasenlöcher gefächelt werden. Und dann, zögernd zunächst, doch mit wachsender Selbstsicherheit, gaben die Mitglieder der eingeschworenen Gemeinschaft ihren Urteilsspruch ab, einer nach dem anderen, verkündet mit Akzenten, die ihren Ursprung in Hongkong, Tokio, Seoul und Schanghai hatten. Veilchen wurden erwähnt und Vanille. Einen treuherzigen Teilnehmer, der phantasievoller als die anderen war, hörte man »nasser Hund« murmeln, was den französischen Gastgeber veranlasste, kurzfristig die Augenbrauen zu heben.
Doch das war nur der Auftakt zu der geballten Verbalakrobatik, die zu dieser Verkostung gehörte. Der Wein wurde gekaut und auf der Zunge gerollt, bevor es ihm gestattet wurde, die Backenzähne zu bewässern und in den Gaumen einzudringen. Anschließend wurde er den crachoirs überantwortet; Mademoiselle de Salis wartete derweil hinter dem Tisch, mit einem Stoß Leinenservietten für die weniger geschickten Spucker ausgerüstet.
Wie beschreibt man das Unbeschreibliche? Nachdem sie einen Schluck gekostet hatten, taten die Einkäufer ihr Bestes, um Bilder von Leder und Schokolade, Bleistiftspänen und Himbeeren, von Komplexität und Tiefe, Rückgrat, Muskeln und Weißdornblüte heraufzubeschwören - von beinahe allem, außer Trauben. Notepads wurden gezückt und bekritzelt. Der Einkäufer aus Schanghai, offensichtlich ein distinguierter Herr aus einer reichen Dynastie,
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