Ein guter Mann: Roman (German Edition)
du seine Brieftasche geklaut hast. Sei so klug, nimm das Geld heraus und schmeiß sie einfach weg.«
Sie starrte ihn an und wisperte: »Oh Mann!« Dann ging sie davon.
Müller erwachte um sechs Uhr und fühlte sich ausgeruht. Er machte einige Dehnübungen und versank dann in seiner üblichen morgendlichen Konzentration.
Einer seiner Lehrer hatte mal geäußert: »Leere morgens deine Seele, so wie die Leute früher ihre Pisspötte geleert haben.«
Müller fühlte einen vagen Ärger, weil ihm das seit Monaten nicht mehr gelang. Er schlief mit den Ärgernissen seines Lebens ein und erwachte wieder damit. Das stimmte ihn melancholisch, und eigentlich konnte er sich Melancholie nicht leisten.
Es schien unausweichlich, dass er sein Kind verlieren würde, dass eines Tages der Satz fallen würde: »Aber Anna-Maria bleibt selbstverständlich bei mir.« Und mit Sicherheit würde seine Mutter feststellen: »War das denn notwendig, Junge?« Sein Vater, auch das war sicher, würde nichts sagen, mit grauem Gesicht an seinem Schreibtisch hocken und in den Garten starren. Wenn seine Mutter ihn fragen würde: »Was hältst du denn davon?«, würde er mit mühsam unterdrückter Wut antworten: »Meine Meinung interessiert doch eh keinen.«
Vorausgesetzt, dieser Vater lebte dann noch.
Diese gottverdammten Konjunktive, dieses ewige »würde« im Leben, fluchte Müller. Und diese gottverdammte Trutzburg von Vater, diese uneinnehmbare Festung. Dieser schrecklich arrogante Peitschenhieb: »Du bist der Sohn eines Schuldirektors, du hast alle Möglichkeiten, stattdessen machst du gerade einmal Abitur und wirst dann Polizist!«
Plötzlich verspürte er den dringenden Wunsch, mit diesem Vater zu sprechen, irgendetwas zu sagen, eine Gemeinsamkeit zu beschwören.
Er rief die Klinik in Berlin an.
Er geriet an eine Krankenschwester, die muffig und atemlos äußerte: »Ach Gottchen, bei Ihrem Vater war ich noch gar nicht. Können Sie in einer Viertelstunde noch einmal anrufen?«
Und Krause? Was würde er sagen? Konzentrieren Sie sich auf das, was vor Ihnen liegt. Vergessen Sie alles andere.
Sie würden miteinander reden, und Krause würde unerbittlich auf den Punkt zusteuern, der da lautete: »Machen Sie eine Pause in der Ehe, nehmen Sie Abstand. Wir haben da ein preiswertes kleines Apartment ganz in der Nähe.«
Bei Svenja war das ganz genauso gelaufen.
Svenja. Niemand schien zu wissen, ob sie überhaupt noch lebte. Niemand sagte ein Wort. Sowinski hatte vor Wochen angedeutet, sie habe »möglicherweise Schwierigkeiten« in Nordkorea, und eigentlich hätte sie vor zwei Monaten zurückkehren müssen. Nichts war geschehen, als gäbe es sie nicht mehr. Svenja, die Frau mit dem stillen Gesicht, die einen so unglaublichen Mut besaß und die einmal erzählt hatte, sie fühle sich eigentlich überall im Feindesland, außer dort, wo Kinder spielten.
Und Melanie. Sie würde niemals kommen und sagen: »Wir trennen uns, wir lassen uns scheiden« oder irgendetwas in diesem Sinn, dachte Müller verbittert. Eine Ehe war für sie so etwas wie ein verbindlicher, lebenslang verpflichtender Sparplan. Gewiss, sie war eine begehrenswert schöne Frau, aber sie lebte damit, als sei es ihre alleinige Aufgabe, so zu erscheinen – eine Barbie auf Ewigkeit. Sie sprachen nicht mehr miteinander, sie schliefen nicht mehr miteinander, sie teilten das Leben nicht mehr.
Sofort musste Müller an Anna-Maria denken, zwischen ihnen mit ihrem sprudelnden Lachen, mit ihren kleinen Fingerfertigkeiten, wenn sie mühsam und hartnäckig eine neue Kette aus winzigen Plastikperlen reihte, wenn sie sagte: »Papi, das musst du tragen. Das ist eine Freundschaftskette.«
Er hielt inne, er konzentrierte sich auf seinen Atem, ließ ihn gleichmäßig strömen. Er sah auf die Dächer der Stadt, die rotgolden schimmerten, die schwarzen Linien dazwischen, die Straßen und Gassen waren, die hochragenden Kuppeln der Moscheen, die wie Inseln wirkten. Und über all dem der sanft rauschende Lärm der erwachenden Stadt.
Hatten sie eigentlich jemals Klartext geredet? Hatten sie gesagt, wir wollen wissen, wie es weitergeht? Hatten sie gefragt: »Wieso läuft bei uns nichts mehr?« Oh nein, sie gingen verdammt zivilisiert miteinander um. Nur einmal hatte er etwas gesagt. An einem frühen Sonntagmorgen hatte er, träge im Bett liegend, bemerkt: »Ich würde gern in eine Kirche gehen.« Sie hatte ihn sekundenlang angestarrt, als sei er ein Fremder. »Wieso Kirche? Du gehst doch
Weitere Kostenlose Bücher