Ein guter Mann: Roman (German Edition)
abkaufen.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Müller verblüfft.
»Doch, doch«, antwortete seine Mutter. Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl ihres Mannes, der dicht vor den Fenstertüren zum Garten stand, und erklärte ihrem Sohn mit weit ausholenden Handbewegungen: »Weißt du, ich habe jede Nacht, die er im Krankenhaus verbracht hat, hier in diesem Stuhl gesessen. Ich konnte nicht schlafen, in meinem Alter braucht man das nicht mehr. Ich habe kein Licht angemacht, Licht stört dann nur. Ich habe überlegt, was ich mit meinem Leben anfange. Und ich habe gedacht: Ich will dieses verdammte Haus loswerden, ich will hier nur so lange bleiben, wie es unbedingt sein muss. Ich will es verkaufen, und dann will ich irgendwohin, wo ich in Ruhe überlegen kann, wo und wie ich leben will. Verstehst du?«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Das kommt überraschend. Das hört sich so an, als … Na ja, hat er dich etwa eingesperrt?«
»Hat er!«, sagte sie. »Aber er hat es natürlich nicht gewusst. Er hat mich überhaupt vergessen in den letzten Jahren. Weißt du, wenn du vierzig Jahre lang deinen Urlaub entweder an der Nordsee oder im Schwarzwald zu verbringen hast, fragst du dich natürlich, was du für ihn bist. Eine Ehefrau oder ein Gegenstand der ständigen Einrichtung um ihn herum.«
Müller sagte: »Das habe ich nicht gewusst.« »Das musst du ja auch nicht, mein Junge. Das musst du wirklich nicht.« Damit stand sie auf und ging hinaus.
Müller hätte sie gern etwas gefragt. Ob sie zum Beispiel erleichtert sei über den Tod seines Vaters. Aber da er die Antwort zu kennen glaubte, schwieg er und telefonierte stattdessen weiter, wobei es ihm schwer fiel, sich auf nüchterne Vorgänge zu konzentrieren. Flüchtig kam ihm in den Sinn, dass seine Mutter schon genug über den elenden Zustand und den Tod seines Vaters geweint hatte. Vielleicht gab es eine zuversichtliche Gelassenheit jenseits der Tränen, vielleicht hatte sie diese Gelassenheit erreicht und verdient. Aber er konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass seine Mutter ein wenig zu triumphieren schien.
Sie hat überlebt, dachte er verblüfft, sie ist eine echte Überlebende!
Dann schellte der Beerdigungsunternehmer, und Müller hörte ihm geduldig zu, was zu tun sei. Er unterschrieb zahllose Formulare.
Als der Mann ging, gab er Melanie die Klinke in die Hand, die mit Anna-Maria ein wenig verloren vor dem Haus in der Sonne stand.
»Mein kleiner Liebling«, rief seine Mutter übertrieben und ging in die Knie, um die Kleine an ihr Herz zu drücken.
Müller verschwand schnell im Arbeitszimmer seines Vaters, um Vordrucke auszufüllen und gewisse Einzelheiten der Versicherungen seines Vaters abzuklären, mit der Bank zu sprechen, eine Liste all der Leute zusammenzustellen, die eine Todesanzeige zu bekommen hatten. Schnell saß er vor einem Wust an Unterlagen, die er im Minutentakt anders ordnete, durch Telefonate klärte, mit Fragezeichen versah.
Dann meldete sich Krause.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Schlecht«, antwortete Müller.
»Es ist schwierig, mit dem Tod des Vaters umzugehen, weil man plötzlich begreift, wie wenig man gewusst hat.«
»Ja«, sagte er.
»Ich melde mich, wenn ich Sie brauche.«
Müller fühlte sich beengt, er stieß die Türen zum Garten auf und ging auf dem Rasen hin und her.
Das Eichhörnchen, das seit drei Jahren in der hohen Weißtanne hauste, kam am Stamm herunter, lief über den Rasen, stellte sich auf und sah zu ihm hin. Sein Vater hatte es Oswald getauft.
Rechts neben ihm hatte seine Mutter ein großes Beet Kornblumen gepflanzt. Sie hatte jedes Mal darum kämpfen müssen, welche Farbe in welchem Beet vorzuherrschen hatte. Der Vater hatte lächelnd gemeint, sie habe keine Ahnung von Landschaftsarchitektur. Sie hatte kläglich erwidert: »Ich dachte doch nur an blühende Blumen.«
Er ging wieder hinein, setzte sich in den Bürostuhl und fand, dass seine Mutter finanziell bestens abgesichert war, dass alles, was er erledigen konnte, auf einem guten Weg war und dass sie jetzt nur zu warten hatten auf das, was man so Beerdigung nannte.
Anna-Maria öffnete die Tür mit einem Knall. Sie wollte etwas sagen, aber Melanie war plötzlich hinter ihr und zischte: »Papa macht etwas Wichtiges, Papa braucht jetzt Ruhe.« Dann schloss sie die Tür geräuschlos.
Müller begann ohne großes Interesse, den Schreibtisch seines Vaters zu durchsuchen. Er fand das Testament in einem verschlossenen Umschlag und öffnete es nicht.
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