Ein guter Mann: Roman (German Edition)
Er fand all den Krimskrams, der sich in einem Lehrerleben ansammelt, unendliche Mengen von Kugelschreibern, Füllfederhaltern und Bleistiften und kleine Glasgefäße mit roter Tinte. Er fand eine Menge persönlicher Briefe, Mappen mit Unterlagen über Themen, die seinen Vater gefesselt hatten. Er fand große Mengen von Dias, die der Vater in den Ferien gemacht hatte, eine Reihe von Fotoalben mit meist langweiligen Fotos, die nichts besagten, die nicht einmal irgendeine Besonderheit hatten, die immer nur die Mutter und ihn zeigten. Er fand sehr viele dünne Pappmappen in allen Farben, die irgendwelche schulischen Dokumente und Kopien irgendwelcher Vorgänge enthielten, die todsicher inzwischen ohne jede Bedeutung waren. Es war ein sehr großer Schreibtisch, und er enthielt ein ganzes Leben.
Als er ganz unten rechts im hintersten Winkel der untersten Schublade das dicke Heft mit den farbigen Pornofotos entdeckte, schloss er die Augen und dachte, dass das an Trivialität nicht zu überbieten sei. Er schlug eine Seite auf, die eine Frau zeigte, die breitbeinig zur Kamera saß und sich mit beiden Händen genussvoll lächelnd die Vulva spreizte.
Eine Sekunde lang überfiel ihn panisch der Gedanke, dass er diese Wichsvorlage seines Vaters schleunigst vernichten sollte. Aber im gleichen Augenblick wusste er, dass seine Mutter dieses Magazin längst gefunden hatte. Er fragte sich verwirrt, weshalb sie es im Schreibtisch gelassen hatte. Damit der Sohn es fand? So viel schien ihm sicher: Er würde sie niemals fragen. Er legte das Heft an die alte Stelle.
Seine Mutter kam herein und sagte: »Wir wollen einen Happen essen.«
»Das ist gut«, antwortete er.
Melanie konnte mit der Trauer anderer Menschen nicht umgehen, weil sie selbst wohl keine empfand. Sie wies ununterbrochen die kleine Anna-Maria zurecht, die lebhaft und aufgedreht wissen wollte, wo der Opa denn jetzt wäre und ob Tod so etwas wie Verschwinden wäre oder so etwas wie weggefahren oder so etwas wie weg sein auf ewig bis nächste Woche.
»Lass sie doch«, sagte Müller. »Sie wird damit klarkommen, wenn wir ihr sagen, dass Tod zum Leben gehört.«
»Es ist so, mein Liebes«, erklärte seine Mutter. »Wir sterben alle einmal, und der Opa ist jetzt für immer fort.«
Anna-Maria weinte und stellte wütend fest: »Das will ich nicht.« Dann war sie verwirrt, stand auf und ging in das Wohnzimmer, um Bilderbücher anzuschauen.
»Sie rafft das einfach nicht«, sagte Melanie seufzend.
»Sie wird es lernen«, entgegnete Müller. »Sie muss es lernen, wir alle müssen das lernen.« Dann wandte er sich an seine Mutter. »Ich bin klar mit allen Unterlagen. Gleich werden die Drucksachen geliefert, wir können sie dann fertig machen und aufgeben.«
»Das mache ich. Ich muss bei einigen ja noch ein paar zusätzliche Zeilen schreiben. Und du? Musst du nicht in den Dienst?«
»Ich bin in Bereitschaft, ich kann dir helfen. Aber ich möchte auch noch mit Melanie reden. Ich brauche ein paar Sachen aus unserem Haus.«
»Dann macht das jetzt, das ist doch wichtig.« Müllers Mutter lächelte flüchtig und unsicher und ging dann zu dem Kind hinüber.
Müller und Melanie gingen in den Garten auf die Bank unter der Hängebirke.
»Kommst du klar, hast du eine Bleibe?«, fragte sie und sah ihn nicht an.
»Ja, alles klar«, murmelte er. »Ich finde es gut, dass du reden willst.«
Sie sagte kühl: »Das müssen wir wohl. Ich will alles glatt ziehen, damit es keine Missverständnisse gibt. Du willst dich ja wohl schleunigst scheiden lassen.«
»Das will ich nicht«, sagte er verblüfft. »Wie kommst du darauf?«
»Bei Birte war das auch so. Ihr Mann hat gesagt, dass er sich auf Probe trennt, und dann kam nach vier Tagen ein Brief von einem Anwalt.«
»Ich bin aber nicht Birtes Mann«, fauchte er in jähem Ärger.
Sie schwieg eine Weile und stellte dann kühl fest: »So läuft das aber doch immer.«
Es ist ein geschäftlicher Vorgang, dachte er verblüfft. Es ist nichts als eine kleine Akte auf dem Schreibtisch, die man abarbeitet. Sie will nicht um uns kämpfen, sie will nur sich selbst ordnen, aufstellen für ein neues Leben.
»Was willst du?«, fragte er.
»Ich will nur sagen, dass ich alles bedacht habe. Ich habe auch schon ausgerechnet, was du für Anna-Maria monatlich zahlen musst. Und ich habe rumtelefoniert, weil ich ausziehen will und woanders eine günstige Wohnung für uns finden muss. Das Haus ist mir zu teuer und zu groß. Ich brauche das nicht. Ich habe
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