Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
Vom Netzwerk:
auf einen Schlag aus der kalten Anonymität in den Brennpunkt der Weltbühne.
    Theo hatte gewusst, dass er vorzeitig sterben würde, aber so? Nicht das Rauchen wurde sein Tod, nicht das Saufen oder Koksen und auch keine Ausschweifungen mit einem Dutzend Huren, die mit irgendwelchen dreckigen Krankheiten behaftet waren (in einem Bordell in Montevideo, so hatte er sich das einmal ausgemalt), nein, ein Scheißmarokkaner mit einer Winzpistole und einem lächerlichen Zirkusmesserchen, einem sogenannten Kris, sollte ihm das Leben nehmen.
    Mohamed Boujeri. Nie gehört. Er könne ganz gut schreiben, erfuhr Theo später. Quatsch. Der war doch halber Analphabet! Hatte Artikelchen für eine Nachbarschaftszeitung in Amsterdam-West geschrieben. Talentlos. Im Schatten von Eichen wie ihm dazu verdammt zu verkümmern und am Ende der Saison zu verdorren wie ein Blatt im Herbst. Aber nein. Der Wicht hatte ihm nachgestellt. War monatelang damit zugange gewesen. Theo hatte die Zeitungsberichte gesehen, die Fernsehsendungen, die offiziellen Dokumente über Boujeri und die African Princess und Theo van Gogh.
    Die Explosionen aus dem Pistolenlauf rauschten in seinen Ohren. Er wollte den Bartaffen ansehen, konnte es aber nicht.
    Die Kugeln in seinem Leib kümmerten ihn nicht, es durfte einfach nicht wahr sein, dass dies tatsächlich geschah. Sein Kopf sagte ihm: Keine echten Kugeln. Keine echten Schüsse. Aber er fiel. Sein Herz spielte verrückt. Seine Glieder standen in Flammen. Ihm schwanden die Sinne, wo er doch hellwach bleiben wollte. Er wollte fliehen. Er hätte alles dafür gegeben, jetzt davonrennen zu können. Seine Beine wollten nicht.
    Er musste einen Film über einen Helden fertig machen, über Pim Fortuyn, ermordet von einem Tierschützer mit der Kreativität eines braven Beamten. Ein guter Film. Endlich hatte er mal ein vernünftiges Budget für die Produktion gehabt. Er hatte Pläne. Er hatte Aussichten. Er hatte ein Kind.
    Und da kreuzte ein Scheißmarokkaner seinen Weg.
    Es war schon vorgekommen, dass er Frauen angefleht hatte. Aber nie so einen Niemand. Dieser Wicht hatte Macht über ihn, fügte ihm Schmerzen zu.
    Verdammt, ihm war doch tatsächlich das Wort Gnade rausgerutscht.
    Jetzt, so lange danach, hatte er den Eindruck, dass er schon tot gewesen war, bevor sein Herz aufhörte zu schlagen. Man entweicht der Welt, weil das Feuer im Körper so stark ist, dass die Sinne überlastet werden. Und irgendetwas entwich seinem Leib. War es seine Seele? Vielleicht. Er hatte eine Seele und ein Bewusstsein.
    Boujeri setzte diesen rasiermesserscharfen Kris an seinen Hals, warf sich mit seinem ganzen Gewicht darauf, und die Klinge schnitt in sein Fleisch, durchtrennte seine Kehle, seine Luftröhre. Er roch sein eigenes kochendes Blut. Sein Kopf löste sich von seinem Körper. Er konnte das sehen, weil er schon seinem Körper entwichen war. Die Schmerzen waren zu groß, er musste ihnen entkommen, und das geschah auch. Als er etwa zwei Meter über seinem eigenen Körper schwebte. Er war in Panik. Unfassbar, was ihm da zustieß.
    Gleichzeitig blieben seine Wahrnehmung und sein Denken aktiv. Er dachte: Sieht gut aus. Wenn das ein Film gewesen wäre, hätte er zum Darsteller gesagt, dass er perfekt daliege. Genauso lotterig, wie es sich gehörte. Ohne jede Ästhetik. Leicht angewinkeltes Bein, flach auf dem Rücken, stumm. Guter Schauspieler. Nur war Theo selbst das stumme Schwein, das von dem Scheißmarokkaner abgeschlachtet wurde. Ein Seelenaustritt, das ist definitiv ein Seelenaustritt!, durchfuhr es ihn. Er glaubte nicht an Seelenaustritte. Er glaubte, dass alles aufhörte, wenn sein Körper nur noch ein Haufen verrottendes Fleisch war.
    Dem war nicht so, wie er jetzt wusste. Das Denken, die Wahrnehmung und das Erleben hörten nicht auf, wenn man nicht mehr auf der Erde war. Alles ging weiter. Nur anders.
    Theo konnte Boujeri nicht aufhalten. Er hatte keine Arme, keinen Mund. Niemand sah oder hörte ihn. Er musste mit ansehen, wie Boujeri ein Messer zog, einige Blatt Papier auf die Brust von Theos sterbendem Körper legte und diese mit dem Messer festpinnte. Faszinierend: Theo spürte das und zugleich auch nicht, er konnte den schneidenden Schmerz gleichsam anfassen.
    Ein paar Meter weiter stand ein Mann, der ein Foto machte, das um die Welt ging: Theos großer, stummer, überflüssig gewordener Körper auf der Straße. Das Heft des Messers. Darunter der Brief an Ayaan Hirsi Ali, in dem Boujeri den Niederlanden den Krieg

Weitere Kostenlose Bücher