Ein Hauch Vanille (German Edition)
das?“ fragte er völlig
aufgebracht.
„Weil niemand da ist, der ihn aufhält“, antwortete ich völlig ruhig. Mein Hass wich
tiefer Traurigkeit, weil mir klar wurde, wie sehr Michael mich verabscheuen
musste, um mich vor Shane so bloßzustellen. Das schmerzte eigentlich am meisten.
Den einzigen Lichtblick stellte Anne dar, weil sie endlich einmal für mich
eingetreten war und Michael nicht einfach nur einen Freifahrtschein ausgestellt
hatte. Ich wünschte mir nur, sie hätte es schon eher getan.
Zum
Beispiel im letzten Jahr, an dem eisig kalten Wintertag, an dem Michael wieder
einmal seine Ruhe haben wollte und uns bei minus dreizehn Grad mit Michi zum
Spazieren gehen hinausgeschickt hatte. Wir hatten ihn eingepackt wie eine
Mumie, sodass er sich kaum noch in dem kleinen Buggy bewegen konnte. Er musste
wie erfroren wirken, so steif saß er im Kinderwagen. Als wir am Imbiss bei
unserer Mutter vorbeischauten, schickte sie uns völlig entrüstet sofort wieder
nach Hause. Doch als wir dort ankamen, ließ uns Michael nicht hinein.
„Was wollt ihr denn schon wieder hier?“ schlug er uns die Tür vor der Nase zu
und schickte uns wieder fort. Aber auch dies hatte kein Nachspiel für ihn. Anne
hatte nicht einmal mehr einen Kommentar dazu abgegeben, als wir sie darauf
ansprachen. Deshalb machte ich mir auch jetzt keine größeren Hoffnungen darauf,
dass sich auch nur irgendetwas ändern würde.
Unruhig schob sich Shane ein paar Zauberpilze in den Mund, fasste sich an die
Stirn und dachte nach. Die Bitterkeit der Pilze machte ihm jetzt gar nichts
aus, er verzog nicht einmal das Gesicht. Man konnte aber regelrecht sehen, wie
es in ihm brodelte und er etwas ausheckte.
„Der kriegt auch noch sein Fett weg“, murmelte er leise vor sich hin und hüllte
sich dann in Schweigen.
„Lass uns jetzt Jasmin besuchen und nicht mehr über den Arsch reden“, sagte ich
und warf verächtlich einen Blick zurück in Richtung Haus. „Das ist der doch gar
nicht wert!“
„Willst du jetzt wirklich noch da hin?“ fragte Shane überrascht. „Ich verstehe,
wenn du dazu jetzt keine Lust mehr hast.“ Wieder machte er dieses mitleidige
Gesicht. Genau das wollte ich nicht sehen. Doch ich war ja selbst schuld.
Ich hätte es von Anfang an besser wissen und ihn lieber nicht mit zu uns nach
Hause nehmen sollen. Ich ärgerte mich wieder einmal über mich selbst, was aber
gleichzeitig auch meinen Lebenswillen wieder zurück brachte.
„Natürlich. Du hast doch gesagt, dass wir kommen. Außerdem bringt es mich auf
andere Gedanken“. Ich lächelte gequält, wischte die letzte Träne von meiner
Wange und zog den Helm auf.
Jasmin
E
s
nieselte, als wir mit dem Motorrad die kurvenreiche Strecke ins Dorf hinab
fuhren. Die Kälte schlich sich langsam meinen Körper empor, bis sie ihn
vollends in Beschlag nahm. Ich zitterte, mein Visier beschlug und ich konnte
kaum noch etwas sehen. Aber das brauchte ich auch gar nicht, denn die
Zweieinhalb Kilometer lange Strecke, kannte ich mittlerweile in und auswendig.
Zwar hatte Anne kurz nach dem Umzug noch hoch und heilig versprochen, uns
überall hin zu chauffieren, tatsächlich fuhr sie mich aber nur ein einziges Mal
zu Tina, danach musste ich sehen, wie ich von hier weg kam. Ob im Dunkeln mit
dem Fahrrad, oder zu Fuß, sogar trampen war ihr recht, Hauptsache sie musste
nicht fahren. Zeit hatte sie schon, doch die wollte sie sich nicht nehmen. Aus
demselben Grund musste ich nun auch unsere Zeugnisse und schriftliche Arbeiten
in ihrem Namen unterschreiben.
„Kannst du das nicht selbst? Das ist doch absoluter Schwachsinn, dass ich das
immer noch unterschreiben muss, ihr seid doch groß genug“. Sie ließ mir keine
Wahl, schließlich bekam ich den ganzen Ärger, wenn die Unterschrift fehlte. Ich
fragte mich, worauf ihr Desinteresse beruhte. Wie konnte man sich nicht für die
schulischen Leistungen seiner Kinder interessieren?
Während der zehnminütigen Fahrt versuchte ich mich daran zurückzuerinnern, ob
meine Beziehung zu ihr einmal anders gewesen war. An die Zeit vor Michael. Aber
außer ein paar hellen Momenten, wie der von vorhin, als sie sich ausnahmsweise
einmal für mich eingesetzt hatte, musste ich feststellen, dass es bereits mein
Leben lang so war. Ich stand immer nur am Rand,
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