Ein Hauch von Schnee und Asche
»Oder ihr. Aber ganz am
Anfang sagen Babys noch nichts. Das weißt du doch. Felicité sagt ja sogar jetzt noch nichts außer ›Mama‹.«
»Oh, aye.« Germain verlor jetzt das Interesse an seinem werdenden Geschwisterchen und bückte sich, um einen interessant aussehenden Stein aufzuheben.
Marsali hob den Kopf und blinzelte in die Sonne.
»Du solltest nach Hause gehen, Germain. Mirabel will bestimmt gemolken werden, und ich habe hier noch ein bisschen zu tun. Geh und hilf Papa, aye?« Mirabel war eine Ziege und erst so kürzlich zu ihrem Haushalt gestoßen, dass sie noch interessant war, denn bei diesem Vorschlag erhellte sich Germains Gesicht.
» Oui , Maman. Au’voir , Grand-mère!« Er zielte und warf den Stein in Richtung des Schuppens, verfehlte ihn, drehte sich um und hüpfte auf den Pfad zu.
»Germain«, rief Marsali ihm nach. »Na tuit.«
»Was bedeutet das?«, fragte ich neugierig. »Es ist doch Gälisch, oder? Oder Französisch?«
»Es ist Gälisch«, sagte sie lächelnd. »Es bedeutet ›Fall nicht!‹« Sie schüttelte in gespielter Bestürzung den Kopf. »Der Junge kann für sein Leben keinem Baum fernbleiben.« Germain hatte das Nest mit den Eiern dagelassen; sie setzte es sanft auf den Boden, und da sah ich die blassen gelblichen Ovale an ihrem Unterarm – verblichen, aber genau so, wie Brianna sie beschrieben hatte.
»Wie kommt Fergus denn zurecht?«, fragte ich, als hätte das irgendetwas mit unserer Unterhaltung zu tun.
»Ganz gut«, erwiderte sie, und ein Ausdruck des Argwohns verschloss ihre Züge.
»Wirklich?« Ich blickte gezielt auf ihren Arm, dann in ihre Augen. Sie errötete und verdrehte hastig den Arm, um die Flecken zu verbergen.
»Aye, es geht ihm gut!«, sagte sie. »Das Melken gelingt ihm noch nicht besonders gut, aber das klappt bestimmt bald. Mit nur einer Hand ist es natürlich schwierig, aber er ist -«
Ich setzte mich neben ihr auf den Baumstamm und drehte ihr Handgelenk um.
»Brianna hat es mir erzählt«, sagte ich. »Ist das Fergus gewesen?«
»Oh.« Sie schien verlegen zu werden, zog ihr Handgelenk fort und drückte den Unterarm an ihren Bauch, um die Stellen zu verdecken. »Nun, aye. Aye, das war er.«
»Möchtest du, dass ich mit Jamie darüber spreche?«
Kräftige Röte stieg ihr ins Gesicht, und sie richtete sich alarmiert auf.
»Himmel, nein! Pa würde Fergus das Genick brechen! Und es war nicht seine Schuld.«
»Natürlich war es seine Schuld«, sagte ich bestimmt. Ich hatte in der Bostoner
Notaufnahme viel zu viele misshandelte Frauen gesehen, die allesamt behaupteten, dass es nicht die Schuld ihrer Männer oder Freunde gewesen war. Natürlich lag es oft an den Frauen, aber trotzdem -
»Aber nein«, beharrte Marsali. Die Farbe in ihrem Gesicht war nicht verblichen; wenn überhaupt, wurde sie jetzt noch kräftiger. »Ich – er – ich meine, er hat mich am Arm gepackt, aye, aber das war nur, weil ich … äh … na ja, ich hatte gerade versucht, ihm einen Holzscheit über den Schädel zu ziehen.« Sie wandte den Blick ab und errötete erneut heftig.
»Oh.« Ich rieb mir ein wenig verblüfft die Nase. »Ich verstehe. Und warum hast du das versucht? Hat er dich … angegriffen?«
Sie seufzte und ließ die Schultern hängen.
»Oh. Nein. Nun ja, es war, weil Joanie die Milch verschüttet hat, und er hat sie angeschrien, und sie hat geweint, und …« Sie zuckte schwach mit den Achseln und sah so aus, als sei ihr das Ganze sehr peinlich. »Ich nehme an, mich hat ein kleines Teufelchen geritten.«
»Es sieht Fergus aber nicht ähnlich, die Kinder anzuschreien, oder?«
»Oh, nein, gar nicht!«, sagte sie schnell. »Es kommt kaum vor, dass er… nun ja, früher jedenfalls nicht, aber jetzt, wo es so viele sind … nun ja, diesmal konnte ich ihm jedenfalls keine Vorwürfe machen. Er hat furchtbar lange gebraucht, um die Ziege zu melken, und dann zuzusehen, wie alles verschüttet und vergeudet wurde – ich glaube, ich hätte auch geschimpft.«
Sie hielt die Augen fest auf den Boden geheftet, um meinem Blick auszuweichen, und spielte mit dem Saum ihres Hemdes, indem sie den Daumen wieder und wieder über die Naht gleiten ließ.
»Kleine Kinder können einen wahrhaftig auf die Geduldsprobe stellen«, pflichtete ich ihr bei und erinnerte mich dabei lebhaft an einen Vorfall, dessen Hauptrollen die zweijährige Brianna, ein Anruf, der mich abgelenkt hatte, eine große Schüssel Spaghetti mit Fleischklößchen und Franks offene Aktentasche gespielt hatten.
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