Ein Hauch von Schnee und Asche
gerade noch tot gewesen war. Ihre Atmung war flach und sehr angestrengt, ihre Gesichtsfarbe erinnerte an altes Hafermehl, ihre Haut war trotz der Hitze im Inneren des Zimmers kalt und klamm, und ich
konnte keinerlei Pulsschlag finden, obwohl er doch eindeutig vorhanden sein musste. Oder etwa nicht?
»Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte ich.
Sie legte ihre zitternde Hand auf ihren Bauch.
»Es geht mir etwas schlecht«, flüsterte sie.
Ich legte ihr ebenfalls die Hand auf den Bauch und spürte es sogleich, ein Puls, wo keiner sein sollte. Er war unregelmäßig und holperig – aber definitiv dort.
»Himmel, Arsch und Zwirn«, sagte ich. Ich sagte es nicht laut, aber Mrs. Crombie schnappte nach Luft, und ich sah ihre Schürze zucken, weil sie zweifellos das Zeichen des Horns darunter machte.
Ich hatte keine Zeit für eine Entschuldigung, sondern stand auf, packte Roger am Ärmel und zog ihn beiseite.
»Sie hat ein Aneurysma«, sagte ich kaum hörbar zu ihm. »Sie muss schon seit einiger Zeit innere Blutungen haben, so stark, dass sie dass Bewusstsein verloren und sich kalt angefühlt hat. Die Aorta wird ziemlich bald platzen, und dann stirbt sie wirklich.«
Er schluckte hörbar, und sein Gesicht war sehr blass, doch er sagte nur; »Weißt du, wie lange noch?«
Ich sah Mrs. Wilson an; ihr Gesicht hatte die graue Farbe des schneebeladenen Himmels, und ihr Blick wurde abwechselnd scharf und unscharf wie das Flackern einer Kerze im Wind.
»Verstehe«, sagte Roger, obwohl ich nichts gesagt hatte. Er holte tief Luft und räusperte sich.
Die Menge, die zischend getuschelt hatte wie eine Schar aufgeregter Gänse, verstummte augenblicklich. Jedes Auge im Zimmer hing fasziniert an dem Tableau, das sich ihnen präsentierte.
»Unsere Schwester ist ins Leben zurückgekehrt, wie wir es mit Gottes Gnaden alle einmal werden«, sagte Roger leise. »Es ist uns ein Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht. Sie wird bald wieder in die Arme der Engel zurückkehren, ist aber kurz zu uns gekommen, um uns der Liebe Gottes zu versichern.« Er hielt inne und suchte offensichtlich nach weiteren Worten. Er räusperte sich und beugte den Kopf über Mrs. Wilson.
»Möchtet Ihr… etwas sagen, Mutter?«, flüsterte er auf Gälisch.
»Aye, das möchte ich.« Mrs. Wilsons Kräfte schienen wieder zuzunehmen – und mit ihnen ihre Entrüstung. Ein Hauch von Röte erschien auf ihren wächsernen Wangen, und sie funkelte in die Menge.
»Was für eine Totenwache ist denn das , Hiram Crombie?«, wollte sie wissen und heftete den Blick kampflustig auf ihren Schwiegersohn. »Ich sehe nichts zu essen aufgetischt, nichts zu trinken – und was ist das?« Ihre Stimme erhob sich zu einem wütenden Quieken, nachdem ihr Blick auf das Tellerchen mit Brot und Salz gefallen war, das Roger hastig beiseite gestellt hatte, als er ihr aufhalf.
»Warum -« Sie sah sich wild unter den Anwesenden um, dann dämmerte ihr die Wahrheit. Ihre eingesunkenen Augen traten hervor. »Aber… du schamloser Geizkragen! Das ist gar keine Totenwache! Du wolltest mich mit einer Brotkruste und einem Tropfen Wein für den Sündentilger begraben, und es ist noch ein Wunder, dass du das übrig hattest! Am Ende reißt du mir noch das Leichentuch vom Leib, um Kleider für deine triefnäsigen Kinder daraus zu machen, und wo ist meine gute Brosche, mit der ich begraben werden wollte?« Ihre schmächtige Hand klammerte sich um eine zerknitterte Faust voll Leinen an ihrer zusammengesunkenen Brust.
»Mairi! Meine Brosche!«
»Hier ist sie, Mutter, hier ist sie!« Die arme Mrs. Crombie, die jetzt völlig aufgelöst war, fummelte schluchzend und keuchend in ihrer Tasche herum. »Ich habe sie sicher verwahrt – ich wollte sie dir anstecken, bevor – bevor…« Sie brachte einen hässlichen Granatklumpen zum Vorschein, den ihre Mutter ihr entriss, um ihn an ihre Brust zu drücken und sich dann argwöhnisch umzusehen. Es war klar, dass sie die Nachbarn im Verdacht hatte, nur auf die Gelegenheit zu warten, sie ihr zu stehlen; ich hörte, wie die Frau hinter mir beleidigt Luft holte, hatte aber keine Zeit, mich umzudrehen und nachzusehen, wer es war.
»Aber, aber«, sagte ich in meinem besten, tröstenden Krankenzimmerton. »Es wird bestimmt alles gut.« Abgesehen von der Tatsache, dass Ihr innerhalb der nächsten Minuten sterben werdet, heißt das , dachte ich und unterdrückte das hysterische Bedürfnis, völlig unangebracht loszulachen. Wenn ihr Blutdruck so weiter stieg, konnte es auch in
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