Ein Hauch von Schnee und Asche
Kränkung überwunden hatte, schien das abrupte Ende ihrer Verlobung sie gar nicht sehr zu bestürzen. Sie war verwundert, verwirrt, und Manfred – so sagte sie – tat ihr Leid, aber sie war nicht untröstlich über seinen Verlust. Und da sie Fraser’s Ridge nur noch selten verließ, hörte sie nicht, was die Leute über sie sagten. Was ihr zu schaffen machte, war der Verlust der McGillivrays – vor allem Utes.
»Versteht Ihr, Ma’am«, sagte sie sehnsüchtig zu mir, »ich habe doch nie eine Mutter gehabt, denn meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Und dann hat Mutti – sie hat mich gebeten, sie so zu nennen, als ich gesagt habe, ich würde Manfred heiraten – gesagt, ich wäre ihre Tochter, genau wie Hilde und Inge und Senga. Sie hat mich bemuttert und mich eingeschüchtert und ausgelacht, genau wie sie es mit ihnen macht. Und es war … einfach so schön , so eine große Familie zu haben. Und jetzt habe ich sie verloren.«
Robin, der sehr an ihr gehangen hatte, hatte ihr einen kurzen, bedauernden Brief geschickt, den er mit Hilfe des guten Ronnie Sinclair zu uns geschmuggelt hatte. Aber weder Ute noch ihre Töchter hatten sie nach Manfreds Verschwinden besucht oder auch nur ein Wort von sich hören lassen.
Doch es war Joseph Wemyss, den die ganze Angelegenheit am deutlichsten mitnahm. Er sagte nichts, und es war klar, dass er es für Lizzie nicht noch schlimmer machen wollte – aber er welkte dahin wie eine Blume, die keinen Regen mehr abbekommt. Abgesehen von seinem Mitgefühl mit Lizzie und seiner Sorge um den Schaden, den ihr Ruf nahm, fehlten auch ihm die McGillivrays; fehlten ihm das Glück und die Geborgenheit, die er empfunden hatte, als er sich nach so vielen Jahren der Einsamkeit plötzlich als Teil einer großen, quicklebendigen Familie wiederfand.
Schlimmer noch war, dass es Ute zwar nicht gelungen war, ihre Drohung gänzlich wahr zu machen, dass sie ihre nahen Verwandten jedoch hatte beeinflussen können – darunter auch Pastor Berrisch und seine Schwester Monika,
der man, wie mir Jamie unter vier Augen sagte, verboten hatte, Joseph je wieder zu sehen oder auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln.
»Der Pastor hat sie zu Verwandten seiner Frau in Halifax geschickt«, sagte er und schüttelte traurig den Kopf. »Damit sie vergisst.«
»Oje.«
Und von Manfred gab es nicht die geringste Spur. Jamie hatte die Nachricht durch all seine üblichen Kanäle verbreitet, doch niemand hatte ihn seit seiner Flucht aus Fraser’s Ridge gesehen. Ich dachte täglich an ihn – und betete für ihn -, verfolgt von der Vorstellung, wie er allein durch die Wälder schlich, während sich die tödlichen Spirochäten in seinem Blut mit jedem Tag vervielfachten. Oder schlimmer noch, wie er als Handlanger auf einem Schiff zu den Westindischen Inseln reiste und in jedem Hafen Halt machte, um seinen Schmerz in den Armen ahnungsloser Huren zu ertränken, an die er die lautlose, tödliche Erkrankung weitergab, die sie dann wiederum…
Oder manchmal auch das albtraumhafte Bild eines verrottenden Kleiderbündels, das tief im Wald an einem Ast baumelte, betrauert allein von den Krähen, die ihm das Fleisch von den Knochen pickten. Und trotz allem brachte ich es nicht übers Herz, Ute McGillivray zu hassen, denn sie musste schließlich Ähnliches denken.
Der einzige Lichtblick in diesem ganzen Elend war die Tatsache, dass Thomas Christie es Malva völlig wider Erwarten erlaubt hatte, weiter zu mir ins Sprechzimmer zu kommen, mit der einzigen Einschränkung, dass er im Voraus unterrichtet werden wollte, wenn ich vorhatte, seine Tochter an weiteren Anwendungen des Äthers zu beteiligen.
»Da.« Ich trat zurück und wies sie mit einer Geste an, durch das Okular des Mikroskops zu blicken. »Seht Ihr sie?«
Sie spitzte in stummer Faszination die Lippen. Es hatte mich beträchtliche Mühe gekostet, die richtige Kombination aus Färbemittel und Sonnenstand zu finden, die die Spirochäten sichtbar machte, doch schließlich war es mir gelungen. Sie waren nicht sehr deutlich zu erkennen, doch man sah sie, wenn man wusste, wonach man suchte. Und obwohl ich von der Richtigkeit meiner ursprünglichen Diagnose überzeugt war, war ich erleichtert, sie zu sehen.
»Oh, ja! Kleine Spiralen. Ich erkenne sie gut!« Sie blinzelte zu mir auf. »Wollt Ihr mir wirklich erzählen, dass diese kleinen Dinger der Grund für Manfreds Krankheit sind?« Sie war zu höflich, um offene Skepsis an den Tag zu legen, aber ich konnte sie in ihren
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