Ein Hauch von Schnee und Asche
der die Sklaven immer Bescheid wussten – der Instinkt, der sie zweifellos bewogen hatte, aus dem Fenster zu sehen.
»Sie passen nur auf«, sagte ich so beruhigend, wie ich konnte. »Weil hier so viele Leute sind.« Die MacDonalds übernachteten auf Farquard Campbells Plantage, und eine ganze Reihe von Gästen hatte sie begleitet. Doch es befanden sich nach wie vor viele Menschen auf dem Gelände.
Sie nickte, sah jedoch beunruhigt aus.
»Ich spüre nur, dass etwas nicht stimmt«, sagte sie. »Weiß nicht, was es ist.«
»Das Auge deiner Herrin…«, begann ich, doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Nein. Ich weiß es nicht, aber es liegt etwas in der Luft; ich kann es spüren. Ich meine nicht nur heute Nacht – es geht etwas vor sich. Etwas kommt auf uns zu.« Sie sah mich an, weil sie sich nicht richtig ausdrücken konnte, doch ihre Stimmung übertrug sich auf mich.
Vielleicht lag es zum Teil nur an den hochkochenden Emotionen des kommenden Konfliktes. Diese konnte man tatsächlich in der Luft spüren. Doch vielleicht war da noch etwas – etwas Unterschwelliges, kaum wahrnehmbar, aber vorhanden, wie die verschwommene Gestalt einer Seeschlange, die man nur für eine Sekunde erspähte; dann war sie fort und wurde so zur Legende.
»Meine Großmutter, man hat sie aus Afrika geholt«, sagte Phaedre leise und starrte in die Nacht hinaus. »Sie konnte mit den Knochen sprechen. Sagte, sie erzählen ihr, wenn etwas Schlimmes kommt.«
»Wirklich?« In einer solchen Atmosphäre, still bis auf die Geräusche der Nacht, umgeben von so vielen treibenden Seelen, hatte eine solche Behauptung nichts Unwirkliches an sich. »Hat sie dich gelehrt, wie man … mit den Knochen spricht?«
Sie schüttelte den Kopf, doch ihr Mundwinkel verzog sich kaum merklich zu einem geheimnisvollen Ausdruck, und ich hatte das Gefühl, dass sie mehr darüber wusste, als sie bereit war zu erzählen.
Mir kam ein unwillkommener Gedanke. Ich sah zwar keine Möglichkeit, wie Stephen Bonnet mit den jüngsten Ereignissen in Verbindung stehen sollte – er war mit Sicherheit nicht die Stimme aus Jocastas Vergangenheit, und genauso sicher war ein Diebstahl im Geheimen nicht sein Stil. Doch er hatte irgendeinen Grund zu glauben, dass es irgendwo auf River Run Gold gab – und nach dem, was uns Roger von Phaedres Begegnung mit dem hoch gewachsenen Iren in Cross Creek erzählt hatte…
»Der Ire, dem du begegnet bist, als du mit Jemmy unterwegs warst«, sagte ich und fasste die schlüpfrige Karaffe an einer anderen Stelle an, »hast du ihn je wieder gesehen?«
Dies schien sie zu überraschen; Bonnet war eindeutig das Letzte, woran sie gerade dachte.
»Nein, Ma’am«, sagte sie. »Hab ihn nie wieder gesehen.« Sie dachte kurz nach und hielt ihre großen Augen verdeckt. Ihre Haut hatte die Farbe starken Kaffees mit einem Schuss Sahne, und ihr Haar – irgendwann hatte es in ihrem Stammbaum einen Weißen gegeben, dachte ich.
»Nein, Ma’am«, wiederholte sie leise und richtete ihren besorgten Blick wieder auf die stille Nacht und den sinkenden Mond. »Ich weiß nur – es stimmt etwas nicht.«
Draußen in den Stallungen begann ein Hahn zu krähen, viel zu früh, ein gespenstischer Klang in der Dunkelheit.
55
Wendigo
20. August 1774
Das Licht im Morgenzimmer war perfekt.
»Mit diesem Zimmer haben wir angefangen«, erzählte Jocasta ihrer Großnichte und hob ihr Gesicht in die Sonne, die durch die offenen Flügeltüren zur Terrasse hereinströmte, die Lider über den blinden Augen geschlossen. »Ich wollte ein Zimmer haben, in dem ich malen konnte, und habe diese Stelle gewählt, an der das Licht am Morgen kristallklar einfallen würde und am Nachmittag so still wie Wasser. Und dann haben wir das Haus um die Stelle herumgebaut.« Die Hände der alten Dame, deren Finger schlank und kräftig waren, berührten die Staffelei, die Pigmenttöpfchen und die Pinsel voll Zuneigung und Bedauern, so wie man vielleicht die Statue eines längst verstorbenen Geliebten berührte – eine Leidenschaft, die unvergessen war, deren Unwiederbringlichkeit man jedoch akzeptiert hatte.
Und Brianna, Skizzenblock und Stift in der Hand, hatte so schnell und so unauffällig wie möglich gezeichnet, um diesen flüchtigen Ausdruck überstandenen Schmerzes festzuhalten.
Die Zeichnung lag bei den anderen am Boden ihrer Schachtel für den Tag, an dem sie sich vielleicht in vollendeterer Form daran versuchte, versuchte, dieses erbarmungslose Licht einzufangen und die
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