Ein Hauch von Schnee und Asche
tiefen Linien im Gesicht ihrer Tante, dessen kräftige Knochen sich deutlich in der Sonne abzeichneten, die sie nicht sehen konnte.
Doch das Bild, an dem sie gerade arbeitete, war erst einmal eine Sache des Geschäfts, nicht der Liebe oder der Kunst. Seit Flora MacDonalds Empfang
hatte sich nichts Verdächtiges mehr ereignet, doch ihre Eltern wollten noch etwas bleiben, nur für den Fall. Da Roger immer noch in Charlotte war – er hatte ihr geschrieben; der Brief war am Boden ihrer Schachtel versteckt, bei den persönlichen Zeichnungen -, gab es keinen Grund, warum sie nicht auch bleiben sollte. Zwei oder drei von Jocastas Bekannten, reiche Pflanzer, hatten davon gehört, dass sie noch bleiben würde, und Porträts ihrer selbst oder ihrer Familien in Auftrag gegeben; eine willkommene Einkommensquelle.
»Ich werde nie verstehen, wie du das machst«, sagte Ian, der kopfschüttelnd die Leinwand auf ihrer Staffelei betrachtete. »Es ist wundervoll.«
Ganz ehrlich verstand sie selbst nicht, wie sie es machte; es erschien ihr nicht notwendig. Doch genau das hatte sie schon öfter auf ähnliche Komplimente geantwortet und erkannt, dass eine solche Antwort dem Zuhörer entweder wie falsche Bescheidenheit oder wie Herablassung vorkam.
Stattdessen lächelte sie ihn an und ließ ihrem Gesicht die Freude ansehen, die sie empfand.
»Als ich klein war, ist mein Vater oft mit mir im Stadtpark spazieren gegangen, und da haben wir einen alten Mann gesehen, der mit einer Staffelei gemalt hat. Ich habe Papa gebeten, stehen zu bleiben, damit ich ihm zusehen konnte, und er hat sich dann mit dem alten Mann unterhalten. Meistens habe ich nur auf die Leinwand gestarrt, aber einmal habe ich den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, wie er das machte, und er hat zu mir heruntergesehen und gelächelt und gesagt: ›Der einzige Kniff dabei, Schätzchen, ist zu sehen, worauf dein Blick fällt.‹«
Ian blickte von ihr auf das Bild und wieder zurück, als wollte er das Porträt mit der Hand vergleichen, die es angefertigt hatte.
»Dein Vater«, sagte er neugierig. Er senkte die Stimme und blickte durch die Tür in den Flur. Es waren Stimmen zu hören, aber nicht in der Nähe. »Du meinst nicht Onkel Jamie?«
»Nein.« Sie spürte einen vertrauten, leisen Schmerz bei dem Gedanken an ihren ersten Vater, schob ihn aber beiseite. Sie hatte nichts dagegen, Ian von ihm zu erzählen – aber nicht hier, wo es von Sklaven wimmelte und ständig Besuch kam, der jede Sekunde den Kopf ins Zimmer stecken konnte.
»Sieh mal.« Sie vergewisserte sich mit einem Blick, dass niemand in der Nähe war, aber die Sklaven stritten sich im Foyer lautstark über einen verlegten Schuhabstreifer. Sie hob den Deckel des kleinen Fachs, das ihre Ersatzpinsel enthielt, und griff unter den Filzstreifen, mit dem es gefüttert war.
»Was hältst du davon?« Sie hielt ihm die beiden Miniaturen zur Betrachtung entgegen, eine in jeder Hand.
Sein erwartungsvoller Blick verwandelte sich in unverblümte Faszination, und er griff langsam nach einem der winzigen Gemälde.
»Teufel noch mal«, sagte er. Es war das Bild ihrer Mutter. Ihr langes Haar ringelte sich lose über ihre bloßen Schultern, und ihr kleines, festes Kinn war
mit einer Autorität gehoben, die den großzügig geschwungenen Mund darüber Lügen strafte.
»Die Augen – ich glaube, sie sind nicht ganz richtig«, sagte sie und deutete auf die Miniatur in seiner Hand. »Dieses kleine Format… ich habe die Farbe nicht genau hinbekommen. Pas waren viel einfacher.«
Blautöne waren nun einmal einfacher. Ein winziger Klecks Kobalt, akzentuiert mit Weiß und jenem schwachen grünen Schatten, der das Blau intensiver erscheinen ließ und selbst verschwand… nun, und auch das war Pa. Kräftig, lebhaft und gerade heraus.
Aber ein Braun mit wahrer Tiefe und Raffinesse hinzubekommen – ganz zu schweigen von etwas, das den rauchigen Topas der Augen ihrer Mutter nur annähernd traf, stets klar, aber wechselhaft wie das Licht auf einem torfbraunen Forellenbach -, dazu waren mehr Farbschichten notwendig als sich auf dem beengten Platz einer Miniatur verwirklichen ließen. Sie musste es irgendwann noch einmal mit einem größeren Porträt versuchen.
»Findest du, sie sind ihnen ähnlich?«
»Sie sind wundervoll.« Ian blickte von einem Bild zum anderen, dann legte er Claires Porträt sanft wieder zurück. »Haben deine Eltern sie schon gesehen?«
»Nein. Ich wollte erst sicher sein, dass sie gelungen sind, bevor ich sie
Weitere Kostenlose Bücher