Ein Hauch von Schnee und Asche
gewesen.
Er nickte und streckte erneut die Hand nach dem Stein aus. Ein Windstoß fuhr durch den Ilex und bewegte seine steifen Blätter.
»Es hätte die Schwangerschaft erklärt, und sie hätte nicht heiraten müssen. Ich dachte – Ehrwürden würde ihr Geld geben, damit sie fortgehen kann, und ich wäre dann mit ihr gegangen. Wir hätten vielleicht nach Kanada gehen können oder auf die Westindischen Inseln.« Seine Stimme klang verträumt, als er sich ein idyllisches Leben an einem Ort vorstellte, wo niemand von ihnen wusste.
»Aber warum habt Ihr sie umgebracht?«, entfuhr es mir. »Was hat Euch dazu getrieben?« Es war so überwältigend schmerzhaft und sinnlos, dass ich die Hände in meiner Schürze zu Fäusten ballte, um nicht auf ihn einzuhämmern.
»Ich musste«, sagte er ernst. »Sie hat gesagt, sie könnte das nicht.« Er senkte blinzelnd den Blick, und ich merkte, dass seine Augen voller Tränen waren.
»Sie hat gesagt – dass sie Euch liebt«, sagte er mit leiser, belegter Stimme. »Dass sie Euch das nicht antun könnte. Sie hatte vor, die Wahrheit zu sagen. Ganz gleich, was ich ihr geraten habe, sie hat es ständig wiederholt – dass sie Euch liebte und alles erzählen würde.«
Er schloss die Augen und ließ die Schultern hängen. Zwei Tränen rannen ihm über die Wangen.
»Warum nur, Kleine?«, rief er und verschränkte von Trauer geschüttelt die Arme vor dem Bauch. »Warum hast du mich dazu gezwungen? Du hättest niemanden lieben dürfen außer mir.«
Dann schluchzte er wie ein Kind und krümmte sich weinend. Auch ich weinte um den Verlust und die Zwecklosigkeit, die ganze grenzenlose, furchtbare Verschwendung. Dennoch streckte ich die Hand aus und hob die Pistole auf. Mit zitternden Händen leerte ich das Ladepfännchen und schüttelte die Kugel aus dem Lauf, bevor ich mir die Pistole in die Schürzentasche steckte.
»Geht«, sagte ich mit halb erstickter Stimme. »Geht wieder fort, Allan. Es hat schon zu viele Tote gegeben.«
Er war zu sehr in seinem Schmerz versunken, um mich zu hören; ich rüttelte ihn an der Schulter und wiederholte es mit noch mehr Nachdruck.
»Ihr könnt Euch nicht umbringen. Ich verbiete es Euch, hört Ihr?«
»Und wer seid Ihr, dass Ihr mir das sagen könnt?«, rief er und fuhr zu mir herum. Sein Gesicht war völlig verzerrt. »Ich kann nicht weiterleben, es geht nicht!«
Doch Tom Christie hatte sein Leben genauso für seinen Sohn gegeben wie für mich, ich konnte nicht zulassen, dass sein Opfer umsonst gewesen war.
»Ihr müsst«, sagte ich und stand auf. Mir war schwindelig, und ich war mir nicht sicher, ob meine Knie mich tragen würden. »Hört Ihr mich? Ihr müsst!«
Er sah auf, und sein Blick brannte durch die Tränen hindurch, aber er blieb stumm. Ich hörte ein helles Surren wie das Summen von Moskitos und einen leisen, plötzlichen Aufprall. Seine Miene änderte sich nicht, doch seine Augen erstarben ganz allmählich. Er verharrte einen Moment auf den Knien, beugte sich dann nach vorne wie eine Blüte, die sich an ihrem Stiel neigt, so dass ich den Pfeil sah, der mitten in seinem Rücken steckte. Er hustete ein einziges Mal auf und spuckte Blut, dann fiel er zur Seite und lag zusammengekrümmt auf dem Grab seiner Schwester. Seine Beine zuckten krampfhaft und erinnerten grotesk an die eines Froschs. Dann lag er still.
Ich weiß nicht, wie lange ich dastand und ihn verständnislos anstarrte. Mir wurde nur ganz allmählich bewusst, dass Ian aus dem Wald gekommen und mit geschultertem Bogen an meine Seite getreten war. Rollo stieß den Toten neugierig mit der Nase an und jaulte.
»Er hatte Recht, Tante Claire«, sagte Ian leise. »Es geht nicht.«
123
Die Rückkehr des Wilden
Die alte Mrs. Abernathy sah so aus, als wäre sie mindestens hundertzwei. Unter Druck ließ sie sich eine Zweiundneunzig entlocken. Sie war fast blind und fast taub, von der Osteoporose wie eine Brezel gekrümmt, und ihre Haut war so dünn und empfindlich, dass der kleinste Kratzer sie wie Papier aufriss.
»Ich mag ja nur noch Haut und Knochen sein«, krächzte sie jedes Mal, wenn ich sie sah, und schüttelte ihren von einem Schlaganfall zittrigen Kopf. »Aber wenigstens habe ich noch fast alle Zähne.«
Wie durch ein Wunder stimmte das; ich ging davon aus, dass dies der einzige Grund war, warum sie so alt geworden war. Anders als die meisten Menschen ihres Alters war sie nicht gezwungen, nur von Porridge zu existieren, sondern konnte nach wie vor Fleisch und Gemüse
Weitere Kostenlose Bücher