Ein Hauch von Seide - Roman
aufsuchte.
»Was meinst du damit, bevor du entschieden hast, was du tun wirst?«
Emerald sah im Gesicht ihrer Mutter, was diese befürchtete. Gut. Sie hatte jede Strafe verdient.
»Was glaubst du wohl? Jeder weiß doch, dass es Ärzte gibt, die sich um so etwas kümmern.«
»O nein, Emerald, bitte. Versprich mir, es nicht einmal in Erwägung zu ziehen.«
»Warum?«, fragte sie trotzig. »Weil du es bei mir in Erwägung gezogen hast?«
Amber brachte vor lauter Schuldgefühlen keinen Ton heraus.
»Das hast du doch, oder?«, stocherte Emerald. »Du wolltest mich loswerden. Vielleicht hättest du’s besser getan.«
»Emerald, nein. So etwas darfst du nicht sagen. Und nein, ich wollte nicht … Es war nie eine Frage, ob ich dich kriege oder nicht, nie.«
Da war es wieder, das unheimliche Gefühl von Panik und Schmerz und Sehnsucht nach etwas, das fast in Reichweite war, nach dem sie aber nicht die Hand ausstrecken konnte.
Alessandros Mutter würde natürlich wollen, dass sie die Schwangerschaft abbrach. Ja, Emerald war sich ziemlich sicher, dass sie es verlangen würde. Das reichte aus, um Emerald mit einer sturen Entschlossenheit zu erfüllen, das Kind auf jeden Fall zu bekommen. Wenn Alessandros Mutter wollte, dass sie es abtrieb, dann würde sie es allein aus dem Grund zur Welt bringen, um ihr eins auszuwischen.
»Wenn ich es kriege, musst du dich darum kümmern, denn ich habe das gewiss nicht vor.«
Rose schaute auf ihre Uhr, beschleunigte dann ihre Schritte und hob die Hand, um die Augen vor dem strahlenden Sonnenschein an diesem Herbstnachmittag zu schützen. Das Laub von den Bäumen am Cadogan Place war gegen das Geländer geweht worden, das die Privatgärten vom Gehweg trennte, und einen Augenblick lang überkam Rose das kindische Verlangen, mit den Füßen hindurchzuschlurfen und sich an dem Rascheln zu erfreuen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich als kleines Mädchen im Herbst die Einfahrt von Denham hinuntergehen, die Hand vertrauensvoll in der Hand ihrer Tante Amber, während die beiden mit den Füßen durch das raschelnde goldene Laub der Buchen fuhren, die die Einfahrt säumten. Sie glaubte fast, es zu riechen, und der trockene Geruch des Laubs vermischte sich mit dem Rosen-und-Mandelblüten-Parfüm ihrer Tante, während die Sonne vom strahlend blauen Oktoberhimmel durch die kahlen Äste auf sie herabschien. Sie war nicht zur Schule gegangen, weil sie krank war – Mandelentzündung, vermutete Rose, denn das hatte sie eine Zeit lang oft gehabt –, und so hatte sie den Luxus genossen, ihre Tante ein paar kostbare Stunden lang ganz für sich zu haben. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie glücklich sie gewesen war, ja, die Erinnerung stand ihr so deutlich vor Augen, dass sie fast glaubte, sie könnte die Hand ausstrecken und diese unschuldige Freude der Kindheit berühren. Sie hatte sich damals so sicher gefühlt, die Hand in der ihrer Tante, ihrer Liebe so gewiss. Damals! Jetzt würde sie Amber bald sehen. Seit sie vor einer Woche den Beschluss gefasst hatte, sich ihrer Tante zu öffnen und sie um ihre Hilfe und ihr Verständnis zu bitten, saß sie wie auf heißen Kohlen.
Sie wusste schon länger, dass sie etwas tun musste. Sie vermisste die Verbundenheit mit Amber sehr, und da ihre Tante im Augenblick ohnehin in London war, konnte es für Rose keinen besseren Zeitpunkt geben, um ihren Stolz zu überwinden und ihr zu gestehen, wie verzweifelt und durcheinander und unglücklich sie war und dass sie unbedingt wissen musste, warum ihre Tante ihr nichts davon erzählt hatte, dass John und sie womöglich Bruder und Schwester waren. Sie war auf die Liebe ihrer Tante angewiesen, und sie wusste jetzt, dass das weitaus wichtiger war als das Bedürfnis, sich von ihr zu distanzieren.
Sie eilte zum Sloane Square, wo sie automatisch vor den Schaufenstern von Peter Jones stehen blieb, um sich die Auslagen anzusehen, bevor sie die King’s Road überquerte und den Heimweg einschlug. Sie hatte absichtlich den langen Weg genommen, denn sie war nervös, was sie erwartete, und wollte es hinauszögern, während sie gleichzeitig schneller ging, um endlich da zu sein.
Als sie schließlich in den Cheyne Walk einbog, schickte sie leise ein Stoßgebet gen Himmel, dass alles gut gehen möge, dass ihre Tante sie verstand und dass sie sich wieder nah sein konnten.
Es war untypisch, doch die Vertrautheit des Hauses in Chelsea mit seinem staubigen, leicht muffigen Geruch nach altem Gebäude und Themsewasser,
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