Ein Hauch von Seide - Roman
werde ich aber nass«, protestierte Ella.
»Na und?«
Als er ihr den Schirm wegnahm, kam sie zu dem Schluss, dass sie ihn hasste. Eilig zog sie sich die Baskenmütze vom Kopf und steckte sie in ihre Tasche. Sie hasste ihn, hasste ihn aus tiefstem Herzen. Fröstelnd blickte sie zur Seufzerbrücke und versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste zuzusehen, wenn ein geliebter Mensch über diese Brücke in eine Zelle geführt wurde, verurteilt, den Rest seines Lebens dort zu verbringen.
»Kommen Sie schon, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Träumen. Wir haben zu arbeiten.«
Ella keuchte empört auf, doch bevor sie einwenden konnte, er habe doch gesagt, sie solle traurig dreinblicken, fuhr Oliver fort: »Jetzt brauchen wir eine Kirche, aber nicht irgendeine Kirche. Sie muss richtig aussehen.«
Er wollte eine Kirche. Venedig hatte x-beliebig viele Kirchen. Ella biss die Zähne zusammen.
»Wünschen Sie irgendeine spezielle Art von Kirche?«
»Ja, eine fotogene.«
Am Ende machten sie eine Kirche ausfindig, die seine Zustimmung fand, dazu fünf Brücken und, was Ella am demütigendsten fand, einen herumstreunenden Gondoliere, der sich von Oliver überreden ließ, Ella in seine Gondel zu helfen, wo sie sich an ein Kissen lehnen musste, während Oliver fleißig knipste.
Endlich war es vorbei, das Licht schwand, und Ella war nass bis auf die Haut und fror. Das Strickkostüm klebte ihr unangenehm am Körper, es war bestimmt ruiniert. Und Ella hatte auch genau mitbekommen, mit was für einem Blick der Gondoliere ihre Brüste taxiert hatte, als er ihr in sein Boot half.
Mit gesenktem Kopf eilte sie durch eine der engen Gassen der Stadt hinter Oliver her, als er sich plötzlich umdrehte, sie packte und mit dem Rücken gegen die Hauswand drückte, gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass sie von dem Radfahrer, der ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegenkam, zu Boden gerissen wurde.
Der Zorn, der in ihr aufgestiegen war, als er sie gepackt hatte, löste sich augenblicklich in Luft auf. Als ihr aufging, wie leicht ihr etwas hätte passieren können, war sie erleichtert, und dann setzte ein benommenes Zittern ein.
»Geht es Ihnen gut?«
Ella nickte. Den Schirm hatte sie erst gar nicht mehr aufgemacht, und Regentropfen flogen aus ihrem nassen Haar, das sich wild um ihr Gesicht kringelte.
Sie war wirklich eine gut aussehende junge Frau, fand Oliver. Er hielt sie noch fest, doch seine Hände fuhren zu ihrer Taille, die so schlank war, dass er das Gefühl hatte, er könnte sie mit seinen Händen umfassen. Sie hatte einen herrlich kurvigen Körper, bei dem ein Mann einfach gar nicht anders konnte. Ein scharfer Stich des Verlangens durchfuhr ihn. Er trat näher an sie heran, packte sie fester und fixierte ihren Mund. Ihre Lippen waren weich und einladend.
Was machte Oliver da? Ella schaute mit großen Augen zu ihm auf, während ihr Herz ungläubig Purzelbäume schlug. Oliver Charters wollte sie küssen. Nein, unmöglich, das bildete sie sich gewiss nur ein. Sie wollte sich aus seinem Griff freimachen, doch es war zu spät. Seine Lippen legten sich warm und fest auf die ihren. Mit der freien Hand umfasste er ihr Gesicht, mit der anderen drückte er sie an sich.
Ella öffnete den Mund, um zu protestieren, doch heraus kam nur ein Seufzer, der zum Schweigen gebracht wurde und sich dann unter seinem Kuss irgendwie in hilflose Verzückung verwandelte.
Sie spürte, dass sein Körper sie wärmte. Sie hatte das Gefühl, sie könnte an Ort und Stelle mit ihm verschmelzen, sie empfand … Abrupt ging Ella auf, was da gerade geschah.
Sie schloss energisch die Lippen und schob Oliver von sich. Ihr Gesicht brannte, als sie um ihn herumtrat und mit raschen Schritten in Richtung Hotel marschierte.
»Es ist nicht nötig, deswegen so ein Theater zu machen«, meinte Oliver, als er sie eingeholt hatte. »Es war nur ein Kuss.«
Ella achtete nicht auf ihn. Sie wagte es nicht zu sprechen. Wie konnte sie sich nur so von ihm küssen lassen? Schließlich wusste sie doch, was er für einer war: Er bändelte doch mit jeder an – und im Augenblick lachte er wahrscheinlich über sie und verglich sie mit den hübschen, kultivierten Mannequins, die auf dieser Reise dabei waren. Nicht dass ihr das etwas ausgemacht hätte. Nicht das Geringste.
14
»Oh, John, ich habe dich gar nicht gesehen.« Rose hoffte, dass sie nicht so atemlos und befangen klang, wie sie sich fühlte. Sie war mit dem Fahrrad gekommen und hatte
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