Ein Hauch Von Sterblichkeit
strecken. Sie war in der Tat völlig verspannt, setzte zudem langsam, aber sicher vom vielen Sitzen Speckpölsterchen an und begann sich mehr und mehr zu langweilen. Selbstverständlich musste es nicht so bleiben, nicht, wenn sie auf Austins Vorschlag einginge. Was er gesagt hatte, hatte sich gut angehört. Der Job – und das Leben selbst – wäre weit interessanter als zuvor. Das war verlockend. Doch da gab es schließlich auch noch Liam. Sally seufzte und setzte sich wieder. Das Problem war Liam. Das Problem, wie sie es nun sah, war immer Liam gewesen.
Sie stützte das Kinn in die Hände. Es war dumm, so zu denken, weil es in Wahrheit …
Jemand hatte die Halle betreten und kam auf die Bürotür zu. Es war nicht Austin; sie kannte seinen Schritt, und um von Ted oder Ronnie zu stammen, waren die energischen Schritte des Besuchers nicht schwer genug. Es war kein Besichtigungstag, also war es auch kein möglicher Käufer, der sich ein Objekt ansehen wollte. Sally drehte sich auf dem Bürostuhl zur Tür und rief:
»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«
Da tauchte bereits jemand in der Tür auf, und Sally erkannte Mrs. Sutton, die Nichte von Bodicote. Sie sah mehr oder weniger genauso aus wie am Tag von Bodicotes Tod, nur dass sie diesmal keine Gummistiefel trug. Stattdessen trug sie billige Schuhe mit flachen Absätzen und dicke Strümpfe unter einem Faltenrock, der so achtlos gewaschen worden war, dass die Falten mehr oder weniger verschwunden waren. Dazu trug Maureen Sutton einen handgestrickten Guernsey-Pullover, der aussah, als sei er für einen Mann gedacht gewesen. Ihr Haar war ungekämmt und ihr Make-up nicht besser als am Tag zuvor. Nichtsdestotrotz gewann Sally den Eindruck, dass Mrs. Sutton ihr Bestes getan hatte, um sich selbst herauszuputzen. Es war eindeutig ein Geschäftsbesuch.
»Setzen Sie sich doch!«, lud Sally sie hastig ein, als ihr bewusst wurde, dass sie die andere Frau angestarrt hatte.
»Wie geht es Ihnen heute? Es tut uns allen sehr Leid wegen Ihres Onkels.«
Mrs. Sutton setzte sich vorsichtig auf den zugewiesenen Stuhl, als sei sie nicht sicher, ob es eine gute Idee war.
»Er wurde alt«, erklärte sie brüsk.
»Konnte wohl kaum ewig so weitergehen.« Sally war in zweifacher Hinsicht schockiert. Erstens schien es lieblos und nüchtern, wie Mrs. Sutton den Tod des alten Mannes abtat. Den zweiten Schock versetzte Sally ein Blick auf die Hände ihrer Besucherin, die sie, während sie sprach, auf dem Schoß gefaltet hatte. Die Hände waren rau von harter Arbeit, die Nägel ungepflegt. Doch anlässlich ihres Besuchs hatte Mrs. Sutton ihren guten Schmuck angelegt: einen Verlobungsring mit riesigen Smaragden, eher ein Schlagring denn eine Liebeszeugnis, einen Ehering und ein ganzes Sammelsurium weiterer Ringe, alle mit großen, zweifellos echten Steinen.
»Ich habe hier in dieser Auktionshalle schon alles Mögliche an Leuten gesehen«, hatte Austin einmal zu Sally gesagt.
»Lassen Sie sich nie vom äußeren Anschein täuschen!« Mrs. Sutton war gewiss nicht arm, nicht mit Ringen für zwei- oder dreitausend Pfund an den Fingern. Sally fragte sich, ob die schreckliche Kleidung ein vorsätzlicher Versuch der Täuschung war oder ob Mrs. Sutton sich einfach gerne anzog wie eine Obdachlose.
»Ich bin wegen Onkel Hectors Cottage vorbeigekommen«, tat sie mit lauter Stimme kund. Ihr Verhalten duldete keinen Widerspruch.
»Ich bin seine Testamentsvollstreckerin, Sie verstehen? Das hat er in seinem Testament so festgelegt. Sie können es beim Anwalt überprüfen. Sie werden sehen, dass alles seine Richtigkeit hat. Das ist jedenfalls der Grund, weswegen ich hier bin.«
»Aber Mr. Bodicote ist doch erst gestern …« Sally biss sich auf die Zunge. Mrs. Sutton blieb von Sallys Taktlosigkeit ungerührt. Genauso wenig besaß sie, wie offenbar wurde, selbst tiefere Gefühle.
»Ich weiß, dass er noch nicht begraben ist. Wir müssen noch die gerichtliche Untersuchung zur Feststellung der Todesursache abwarten. Der Coroner hat den Totenschein noch nicht ausgestellt. Aber das ist alles reine Routine. Die Untersuchung findet morgen statt, und danach dauert es nicht lange, bis die restlichen Vorkehrungen getroffen sind. Doch es gibt andere Dinge, die keinen Aufschub dulden, und ich bin diejenige, die sie tun muss.«
»Was für Dinge, Mrs. Sutton?«, fragte Sally einigermaßen beklommen. Mrs. Suttons Gesichtsausdruck wurde noch grimmiger.
»Sie kennen meine Familie nicht!«
»Nein«, gestand Sally
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