Ein Haus für vier Schwestern
reichte ihr das Klemmbrett zum Unterschreiben und deutete auf die gepunktete Linie. »Bitte da.«
Sie folgte der Anweisung und wurde zunehmend neugierig. Doch sie wartete mit dem Öffnen des Umschlags, bis das Kurierfahrzeug das Grundstück verlassen hatte.
Im Umschlag befanden sich zwei Briefe, einer ohne Adresse mit dem Logo eines Reisebüros in einer Ecke. Der andere war von der Kanzlei an sie adressiert. Sie öffnete ihn.
Sehr geehrte Mrs Walker,
ich wende mich im Auftrag Ihres Vaters Jessie Patrick Reed an Sie. Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Mr Reed bald sterben wird. Er hat den Wunsch geäußert, Sie noch einmal zu treffen. Angesichts der Umstände werden Sie verstehen, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldet.
In diesem Augenblick brach Elizabeths kleine heile Welt zusammen. Die Sonne, die Vögel, die klare Morgenluft existierten nicht mehr für sie. Ihr Inneres füllte sich mit bitteren Erinnerungen.
Mr Reed hat mich gebeten, Ihnen zu schreiben, dass er versteht, wenn Sie nicht auf ein Treffen erpicht sind. Er wird alles tun, was in seiner Macht steht, damit Sie Ihre Meinung ändern. Um Ihnen eine reibungslose Anreise nach Sacramento zu ermöglichen, liegen diesem Schreiben ein Rückflugticket und Unterlagen über den Wagen mit Chauffeur bei, der Sie am Flughafen abholen wird. Eine Rückbestätigung ist nicht notwendig. Sollten Sie Fragen haben, rufen Sie mich bitte zu jeder Tages- und Nachtzeit an.
Mit freundlichen Grüßen
Lucy Hargreaves
»Scheißkerl.«
Unterdrückter Schmerz und Wut durchfuhren sie wie ein Waldbrand trockenes Unterholz. Er bestellte sie ein, als ob es sie interessieren müsste, ob er starb oder lebte?
»Es kümmert mich nicht«, sagte sie laut. »Was mich betrifft, bis du schon sehr, sehr lang tot.«
6
Jessie
Jessie blickte über seine Speisekarte hinweg zu Lucy hinüber. Sie studierte die Auflistung italienischer Gerichte so sorgfältig, als zöge sie in Erwägung, etwas anderes als einen Salat zu bestellen. Sie saßen bei Biba’s, einem der besten Restaurants in Sacramento. Die Portionen waren annehmbar, der Rechnungsbetrag meist höher als der Wochenverdienst eines Minijobbers.
Das Mittagessen war Lucys Idee gewesen. Er hatte ihren Vorschlag begeistert angenommen, allerdings nicht aus den Gründen, die ihr vorschwebten. Er brauchte keinen Anlass und war einfach gern mit ihr zusammen. Das war schon immer so gewesen und würde immer so bleiben. Im Moment täuschte er also vor, Gesellschaft beim Warten auf das Treffen mit seinen Töchtern am heutigen Nachmittag zu brauchen.
Er war bereit – mehr als bereit, er freute sich darauf. Und er war nervös. Er hatte eine Menge zu sagen und befürchtete, dass sie ihm nicht viel Zeit dazu geben würden. Sein Sterben war so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr zwischen den Schmerzen durch den wachsenden Tumor und den sonstigen Vorgängen in seinem vergehenden Körper unterscheiden konnte. Darauf konnte er aber auch gut verzichten; am liebsten hätte er gar nicht über den Grund der Schmerzen nachgedacht.
Lucy legte die Speisekarte zur Seite. »Was nimmst du?«
»Die Hummerravioli.«
»Ein bisschen üppig, findest du nicht?«
Er antwortete nur mit einem Kichern.
»Das ist die Macht der Gewohnheit«, sagte Lucy.
»Ah so.«
»Na gut, dann eben nicht. Vielleicht hätte es eine Gewohnheit sein sollen.«
»Das hätte auch nichts geändert.« Er nahm einen Schluck von dem Rotwein, den der Kellner empfohlen hatte. Seine elegante Fruchtnote kämpfte mit dem metallischen Medikamentengeschmack in seinem Mund. Er hatte guten Wein immer sehr geschätzt und war dankbar, dass er diesen Luxus noch würdigen konnte. »Denk doch bloß an die vielen unglaublichen Mahlzeiten, die mir entgangen wären.«
»Tja, das wäre wohl so ähnlich, wie sich auf der Titanic das Dessert zu verkneifen.«
Darüber musste er lachen. »Genau so.«
»Ich nehme trotzdem den Spinatsalat mit Pinienkernen.«
»Schlag ein bisschen über die Stränge, Lucy. Tu’s für mich, versuch die Ravioli.«
Ein paar Sekunden verstrichen. Dann nahm sie wieder die Speisekarte. »Ich mache dir einen Vorschlag.«
Er lehnte sich zurück und nickte ihr zu.
Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf. »Zwanzig Jahre lang hast du jedes Mal das Thema gewechselt, sobald ich dich nach deiner Vergangenheit gefragt habe.«
»Ich wollte dich nicht langweilen.«
»Du hast gewusst, dass das nicht passieren würde.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?
Weitere Kostenlose Bücher