Ein Haus für vier Schwestern
Willst du nicht lieber über etwas Wichtiges sprechen? Beispielsweise über das Gerücht bezüglich deines Ruhestands?«
»Da, du versuchst es schon wieder, Jessie.«
»Stimmt«, gab er zu.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich nehme die Herausforderung an. Du erinnerst dich an diesen Schokoladenkuchen, den ich immer schon probieren sollte?«
Ihm hatte es in seinem Leben nie an Frauen gemangelt, doch ohne Lucy hätte er nie erfahren, was es hieß, einen Menschen gleichermaßen mit Herz und Verstand zu lieben. Himmel, wie würde er sie vermissen. Er blickte auf und sah den Kellner, der sich ihnen näherte.
»Warum willst du etwas über meine Vergangenheit wissen?« Das war eine lässliche Frage, die nur nutzlos Zeit verschlang. Sie würde ihre Absicht weiterhin verfolgen, egal was er sagte.
»Schlicht und einfach aus Neugier. Ich habe über deine Mädchen nachgedacht und darüber, dass sie verschiedene Mütter haben. Ich weiß, du bist zweimal verheiratet gewesen …«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
Er sah auf seine Armbanduhr. »Nicht so lang.«
»Dann erzähl mir ein Kapitel der Geschichte.«
In diesem Augenblick wurde ihm klar, wie sehr sie einen unerfreulichen Ausgang des Treffens mit seinen Töchtern fürchtete. »Ich soll Scheherazade spielen und dich mit Märchen bei Laune halten?«
»Vielleicht.«
»Das funktioniert nicht, wie du sehr wohl weißt.«
»Hab Nachsicht mit mir.«
»Du darfst mir zwanzig Fragen stellen.«
Sie lächelte zufrieden. »Nummer eins: Warum hast du Oklahoma verlassen?«
»Einfache Antwort. Ich musste gehen oder verhungern.«
»Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen, wenn du von mir erwartest, meinen Mund mit Sahnesauce zu füllen.«
Der Kellner drückte sich erwartungsvoll in der Nähe herum. Jessie lächelte. »Du bist eine harte Verhandlerin.«
Lucy erwiderte sein Lächeln und sah zum Kellner hinüber. »Bringen Sie uns bitte zweimal die Hummerravioli.«
Jessie blickte selten zurück. Die Vergangenheit konnte schwer auf den Schultern eines Mannes lasten. Manchmal verhinderte sie sogar, dass er im Leben so richtig vorwärtskam. Aber ein paar wenige Erinnerungen hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Dazu gehörte auch sein letzter Tag in Oklahoma, der ihm so deutlich wie ein Schwarz-Weiß-Foto vor Augen stand.
Vor seinem geistigen Auge sah er sich auf dem Hof der Farm seines Großvaters, etwas außerhalb von Guymon, Oklahoma. Er beobachtete seinen Vater dabei, wie er die Habseligkeiten der Familie auf der Ladefläche ihres alten Pick-ups festzurrte. Seine Mutter stand daneben, ihre Hand ruhte auf dem Messinggriff des Schranks, der in ihrer Familie seit sechs Generationen von der Mutter an die älteste Tochter überging.
Sein Vater hatte versprochen, dass der Schrank mitdurfte, und nun konnte er sein Versprechen nicht halten.
Jessie blickte auf seine Hände. »Ich fühle noch immer die Splitter des Verandapfeilers und erinnere mich, dass ich daran dachte, wie ich ihn nur zwei Sommer zuvor geschliffen und gestrichen hatte. Das Land, das Haus, die Bäume, die Brunnen – alles war ausgedörrt von Jahren voller Wind und Staub. Und alles, woran ich denken konnte, war die Mühe, die mir dieser verdammte Pfeiler gemacht hatte.«
Die Vergangenheit holte Jessie ein. Er versank in seinen Erinnerungen an Oklahoma. Am Ende war er sich nicht mehr sicher, was er Lucy erzählt und was er für sich behalten hatte.
Jessies Geschichte
Es war am 19. September 1935, meinem Geburtstag. Ich war sechzehn Jahre alt geworden. Alt genug, um für mich selbst zu sorgen. Älter, als mein Onkel gewesen war, als er hinausgeworfen wurde. Das war das Argument, mit dem er meine Ma und meinen Pa davon überzeugte, mich allein zurückzulassen. Sie wollten nach Kalifornien, um bei ihm zu wohnen.
Niemand hat mir gratuliert. Ich dachte, sie würden nicht dran denken. Oder dass, wenn sie dran gedacht hätten, meine Mutter ihnen bedeutet hatte, nichts zu sagen. Es machte keinen Sinn, mir den Abschied noch schwerer zu machen, als er ohnehin schon war.
Ich war angestrengt darum bemüht, keinem zu zeigen, dass ich nicht gar so traurig war, wie ich vielleicht sein müsste. Für mich selbst zu sorgen, war ein Abenteuer. Seit Wochen hatte mich der Gedanke daran beschäftigt, und jetzt war es endlich so weit. Ich hätte wahrscheinlich anders empfunden, wenn ich gewusst hätte, dass sie meinen Onkel nie finden würden. Dass der Umzug und alles, was meiner
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