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Ein Haus für vier Schwestern

Ein Haus für vier Schwestern

Titel: Ein Haus für vier Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgia Bockoven
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wichtig gewesen, nur der Film.« Er packte sie am Kinn und drückte zu. Sie schrie vor Schmerz. »Zeig mich bloß nicht an oder mach mir sonst einen Ärger. Das würdest du bitter bereuen. Ich würde dafür sorgen, dass du in Tucson hängenbleibst und nie nach L.A. kommst.«
    Sie wollte ihm antworten, ihm sagen, dass sie keine Angst hatte und dass er sich zum Teufel scheren sollte. Doch sie konnte nicht sprechen. Heiße rote Wellen aus Schmerz durchzuckten sie. Sie kämpfte gegen eine Ohnmacht an, wohl wissend, dass sie Hilfe brauchte und keiner sich um sie kümmern würde.

14
    Jessie
    Jessie ließ das Mikrofon zwischen seinen Fingern rotieren wie eine Münze. Es war der 1. Mai. Früher hatten die Zeitungen an diesem Tag Fotos von Kindern beim Tanz um den Maibaum gebracht. Die Mädchen trugen Bänder im Haar und die Jungen kurze Hosen. Heutzutage wurde der 5. Mai gefeiert, der Sieg der Mexikaner über die Franzosen. Die Kinder auf den Fotos waren Mexikaner. Die Mädchen trugen grellbunte Rüschenkleider, die Jungen Sombreros in der Größe von Regenschirmen.
    War dieser Wechsel der Fotos an einem bestimmten Tag von den Herausgebern so entschieden worden? Oder war er nur ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte?
    Kümmerte das überhaupt jemanden?
    Jessie lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und hörte, wie der Regen vom Wind gegen sein Schlafzimmerfenster getrieben wurde. Er hatte spontan in Lucys Zwanzig-Fragen-Handel eingeschlagen und nie geahnt, wie ernst es ihr damit sein würde. Bis sie mit einem Rekorder und einem Mikrofon bei ihm aufgekreuzt war. Zuerst hatte er Erschöpfung vorgetäuscht, dann Desinteresse geheuchelt. Beide Entschuldigungen hatten sie nicht interessiert. Sie beharrte darauf, dass er es ihr versprochen hatte. Und ein Versprechen würde er nie brechen, das wusste sie.
    Am Ende hatte er zugestimmt. Er verweigerte ihr jedoch, noch einmal ganz vor vorn zu beginnen, noch einmal vom Verlassen seiner Heimat zu erzählen. Er hatte es schwierig genug gefunden, einmal über diese schmerzlichen Stunden zu sprechen. Ein zweites Mal kam nicht infrage. Aber dann erklärte sie ihm, dass sie abgelenkt gewesen wäre und sicher ein paar wichtige Einzelheiten versäumt hätte. Außerdem hätte sie in der Zwischenzeit nicht nur einmal ein Dessert ihm zuliebe verzehrt. Die zusätzliche Zeit müssten ihm ihre Extrastunden im Fitnessstudio schon wert sein.
    Zum Teufel damit. Er hatte sonst nichts vor, also konnte er sich auch einem Rückblick widmen. Seufzend schloss er die Augen, legte das Mikrofon auf seine Brust und begann mit der Aufzeichnung.
    Die zweite Reise in die Vergangenheit fiel ihm leichter als die erste. Er streifte Alter, Weisheit und Erfahrungen in ungeahnter Geschwindigkeit ab – wie eine Schmetterlingspuppe ihren Kokon. Die Wiederholung des Anfangs dauerte Stunden. Danach gab es eine Pause für Medikamente und Kaffee. Dann endlich befand sich Jessie wieder auf der Straße, die aus Guymon herausführte.
    Jessies Geschichte
    Oklahoma sah auf den Landkarten sehr viel kleiner aus, als es war, wenn man es auf Schusters Rappen durchmessen musste. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich es über Woodward in östlicher Richtung und dann mit einer Wendung nach Süden durch Watongo in ein paar Tagen zu den Ölfeldern bei Oklahoma City schaffen sollte. So lange würde auch das Essen von Ma reichen. Was ich sonst noch brauchte, konnte ich mir von den fünf Dollar kaufen, die mir Pa im letzten Moment zugesteckt hatte.
    Es stellte sich schnell heraus, dass ich wirklich laufen musste. Nicht, weil die Leute mich nicht in ihrem Wagen mitnehmen wollten, nein. Aber meist fuhren sie nur zwei oder drei Kilometer in meine Richtung. Die Lastwagenfahrer, die ich an den Tankstellen ansprach, mussten meist Richtung Westen, nach Kalifornien. Sie meinten, ich würde die falsche Richtung einschlagen. Ein paar luden mich sogar ein, mit ihnen zu kommen. Aber ich wollte nicht nach Kalifornien.
    So ging die erste heiße, staubige Woche auf der Straße vorüber, und ich war immer noch weit von der ersten Ölquelle entfernt. Ich teilte mir meine Vorräte streng ein und aß erst etwas, wenn mein Magen keine Ruhe mehr gab. Der Schinken, den ich bis zuletzt aufgehoben hatte, verdarb schließlich. Mein Koffer stank noch ewig danach. Als ich den Geruch nicht mehr aushielt, nahm ich das Taschentuch mit den Sachen aus dem Haus, mein bestes Hemd und ein wenig Unterwäsche. Ich stahl eine Decke

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