Ein Herz bricht selten allein
mütterlichen Fragen möglichst allen Wind aus den Segeln nehmen.
Poldi, ein Stück Speck auf der
Gabel hochhaltend, fragte: »Wer ist Jean?«
Er erfuhr es eine Stunde
später. Aber Bettina erzählte ihm nur die halbe Wahrheit. Den Rest mit dem
geklauten Geld blieb sie ihm schuldig.
Die Geschwister hatten
beschlossen, gemeinsam in der kleinen Kammer zu schlafen, um Mama nicht zu
stören. Im Grunde aber war es umgekehrt: Sie wollten durch Anna nicht gestört
werden.
Poldi hatte sich auf dem Boden
auf einer Wolldecke ausgestreckt. »Ich bin’s gewöhnt, weißt du. Der Mensch
schleppt viel zu viel Gepäck und Ansprüche mit sich herum. Ich habe alles
abgelegt.«
»Dein Studium wohl auch?«
»Klar. Ich bin kein Techniker
und werde nie einer sein. Und ich habe auch zu keinem anderen Studium Lust.«
»Aber irgendwas muß der Mensch
doch tun, Poldi.«
»So? Muß er?«
Ihre Zigaretten bewegten sich
als glühende Punkte in der dunklen Kammer. »Natürlich muß er«, beharrte
Bettina. »Oder du mußt im Urwald mit den Affen leben.«
»Ach Quatsch. So kommen wir
nicht weiter. Dann hätte ich ja gleich bei Mama schlafen und mir ihre
Gardinenpredigt anhören können. Versuch doch bitte mal, von bestimmten
Vorurteilen Abstand zu nehmen! Man muß etwas leisten. Was denn, frage ich dich?
Ist die innere und äußere Freiheit, die Unabhängigkeit von einer Wohnungsmiete
und einem Kühlschrank nicht viel erstrebenswerter als all der stupide
Stumpfsinn, das Blöken hinter einem Schalter oder Addieren von Zahlen?«
Bettina dehnte sich in ihrem
Bett. Es war kein Paradiesbett, aber es war immerhin bequemer als auf dem
nackten Boden. »Mir wäre solch ein Zigeunerleben auf die Dauer zu unbequem. Du,
ich habe gehungert in Rom! Einen einzigen Tag nur, aber... Junge, Junge!« Schließlich
war sie ja auch Mutter und hatte gewisse Pläne für Bibi. Sie wollte ihr ein
wunderbares Heim schaffen mit einem Garten, wo sie mit Pflanzen und Tieren in
Berührung kam, und sie wollte mit ihr reisen, ihr die Welt zeigen, aber
bestimmt nicht die Welt von unten gesehen, bibbernd unter irgendeinem
Brückenpfeiler nächtigend.
»Weißt du, Poldi, eigentlich
bist du etwas zu alt zum Gammeln«, sagte sie nachdenklich. »Ich finde, mit
fünfundzwanzig könnte ein Mann sich ausgegammelt haben. Der Mensch hat sich
jetzt ein paar Millionen Jahre redlich geplagt, um sich vom Affen zu
unterscheiden. Er hat sein Gehirn entwickelt und eine andere Schädelform
angenommen. Schließlich sind mit dieser Wandlung auch andere Funktionen und
Aufgaben verbunden, als nur eben zu vegetieren.«
»Wer spricht denn von
vegetieren? Ich werde später vielleicht einmal schreiben oder malen.« Er
tastete auf dem Boden nach der Zigarettenpackung und fand sie leer. »Verdammt
noch mal, jetzt können wir glücklich Mama um Zigaretten anhauen! Du hättest mir
ruhig die letzte übriglassen können.«
Bettina lachte leise in der
Dunkelheit. »Beruhige dich, zünd mal die Kerze an, und dann mach meinen Koffer
auf. Da habe ich noch eine Packung Zigaretten, eiserne Ration für den äußersten
Notstand. Schmeiß alles ‘raus«, sagte sie, während Poldi die Kerze mit ein paar
Wachstropfen neben Bettinas Koffer auf dem Boden festklebte. »Ganz unten ist
ein Fach mit einem Deckel, den kann man aufklappen, mit einem kleinen Trick. Du
mußt die Notleine ziehen, den roten Lederriemen rechts.«
»Ja, ich sehe schon, ich bin
doch kein Trottel«, brummte Poldi. Sie hörte ihn in ihrem Koffer kramen. »He,
hast du eine Bank ausgeraubt?« sagte er plötzlich. »Du schleppst ja das Geld
kiloweise mit dir herum.«
Bettina begriff schlagartig.
Sie sprang aus dem Bett, lief zu Poldi hin und starrte im flackernden Schein
der Kerze auf die dicken Bündel aus Zehntausendlirescheinen. »Oh, verdammt«,
brachte sie nur hervor, und dann erzählte sie ihrem Bruder alles, sogar daß
Jean in Wirklichkeit Johann Rindlende hieß und ein Erzgauner war. »Er muß auf
irgendeine Weise ins Zimmer dieses Herrn Seggelin gekommen sein, während ich
unten im Hotel meine Rechnung bezahlte. Und dann hat er mir wohl das Geld in
den Koffer geschmuggelt, weil es ihm dort am sichersten vorkam. Später hätte er
es natürlich ebenso unbemerkt wieder herausgezaubert. Er hat nicht damit
gerechnet, daß er so schnell hochgeht.«
Poldi starrte trübsinnig auf
das viele Geld. »Und wo sind nun deine Zigaretten?« meinte er schließlich.
»Die wird Jean sich eingesteckt
haben.«
»Was ist, machen wir
halbe-halbe?«
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