Ein Herzschlag bis zum Tod
kanadischer Staatsbürger aus Montreal: Die Entführer, die den Jungen am letzten Sonntag im Mai um 15.20 Uhr von der aus Burlington kommenden Fähre geworfen haben, fuhren einen grünen Plymouth Grand Voyager, Baujahr 1996 oder 1997. Die Aussage stammt von einem Mitarbeiter der Fährgesellschaft namens Dwight.
|285| Ich druckte die Nachricht und steckte sie in einen Briefumschlag. Dann schickte ich Jameson die Informationen per E-Mail . Vielleicht würde er daraufhin der Polizei in Burlington von mir erzählen, aber ich wollte ihm die Informationen nicht vorenthalten. Falls mich die Polizei hier aufspürte und mir Schwierigkeiten machte, musste ich damit leben.
Ich warf den Brief am Postamt ein und ging hinein, um in mein Postfach zu schauen. Beim letzten Mal hatte nur Werbung darin gelegen, und ich verspürte eine leise Hoffnung, als ich mehrere Briefumschläge entdeckte.
Als ich die Post las, wurde mir klar, dass manche Leute nichts Besseres zu tun haben, als auf Kleinanzeigen zu antworten. Und anscheinend sind es meist Verrückte. Es gab rätselhafte Nachrichten wie
Alle Auslender sind Teufel und sollten dahin geschikt werden wo sie herkomen
und einen langen Brief in krakeliger Handschrift, der mich vor dem Ende der Welt warnte und beschrieb, wie ich mich retten könnte. Der Rettungsprozess hatte anscheinend viel mit Beten und großzügigen Spenden an die beigefügte Adresse zu tun.
Thomas war inzwischen zurückgekommen, sah mir über die Schulter und zog die Augenbrauen hoch.
»Kleinanzeigen scheinen Irre magisch anzuziehen«, sagte ich. Als mein Einweghandy in meiner Tasche klingelte, fiel ich fast vom Stuhl vor Schreck. Ich warf Thomas einen Blick zu, bevor ich es herausholte. Er wagte wohl nicht zu lachen.
»Hallo.«
Die Stimme am anderen Ende war jung, weiblich und entschlossen. »Hallo, hier spricht Alyssa Cox von der
Burlington Free Press
. Bin ich bei Ihnen richtig, wenn es um die beiden Kanadier geht?«
Mein Puls beschleunigte sich. Ich ging in mein Zimmer. »Ja-a. Wissen Sie, wo sie sind?«
»Nein, aber ich würde gern mit Ihnen darüber reden.«
Ich schüttelte mechanisch den Kopf. »Keine Presse.«
|286| »Hat es etwas mit einem vermissten kanadischen Jungen zu tun?«
»Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Heißen Sie zufällig Troy Chance?«
Ich hätte rasch verneinen sollen, reagierte aber zu langsam. Woher kannte sie meinen Namen? Am Tag, als ich Paul gefunden hatte, hatte ich eine E-Mail an die Zeitung geschickt, aber weder meinen Namen noch meine richtige E-Mail -Adresse angegeben. Dennoch hatte sie irgendwie eine Verbindung hergestellt. »Hören Sie zu«, sagte die Frau. »Ich möchte Sie nicht beunruhigen, nur mit Ihnen sprechen. Meinen Sie, es wäre möglich?«
Anscheinend blieb mir keine Wahl. Wir verabredeten uns in einem Café im Einkaufszentrum in der Church Street. Bevor ich aufbrach, schaute ich mir noch die Internetseite der Zeitung an und las einige Artikel von Alyssa Cox. Sie schrieb gut und detailliert, die Geschichten waren ausgezeichnet recherchiert.
Sie erwartete mich vor dem Café: eine schlanke Frau von Mitte, Ende zwanzig, die ihr braunes, drahtiges Haar in einem französischen Zopf trug und deren Haut auf den ersten Blick tief gebräunt wirkte. Ihre Gesichtszüge sahen leicht exotisch aus. Philippinische Vorfahren, vielleicht auch mexikanische oder afrikanische. Oder alle drei. Wir bestellten Kaffee und setzten uns in eine Ecke.
Sie zog eines meiner Plakate aus der Tasche und schob es über den Tisch. Dann folgte eine Kopie meiner Kleinanzeige, ein Ausdruck meiner alten E-Mail , ein Screenshot meiner eBay-Identität mit derselben E-Mail -Adresse, von der ich auch an die Zeitung geschrieben hatte. Sie hatte die URLs der Fotos auf meiner eBay-Seite, die auf meiner Homepage unter meinem richtigen Namen abrufbar waren, bunt markiert. Sie war gründlich. Nur die Anzeige bei Craigslist hatte sie nicht gefunden.
Ich schaute mir die Unterlagen auf dem Tisch an. Ich war es nicht gewöhnt, dass andere ebenso clever waren wie ich, ganz |287| zu schweigen davon, dass sie mich austricksten. Wer verfolgt schon E-Mail -Adressen zu eBay-Konten zurück und überprüft anhand der Kodierung, wo genau Fotos abgelegt sind? Ich würde das tun, hätte aber nicht damit gerechnet, dass jemand auf die gleiche Idee kommen würde.
»Was ist los? Das sieht nach einer tollen Geschichte aus.«
»Es ist eine tolle Geschichte«, sagte ich langsam. »Aber es ist nicht meine
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