Ein Herzschlag bis zum Tod
gern. Aber ich will ihn nicht zu sehr aufregen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er würde sich sehr freuen. Sie können ja die Psychologin fragen. Und wenn er sich wirklich aufregt, räumen Sie es wieder weg.«
Philippe würde sich verrückt machen, wenn er den Rest seines Lebens nur noch daran dachte, ob irgendetwas Paul an die Entführung erinnern könnte. Vielleicht sollte man die schlimmen Erinnerungen auch gar nicht verdrängen. Womöglich wäre es sogar besser, wenn sie an die Oberfläche dringen und nach und nach verblassen konnten.
Schließlich hob er das Fahrrad aus dem Karton. Es war ein supermodernes Mountainbike für Kinder und hatte Gangschaltung und Felgenbremsen. Lenker und Vorderrad mussten noch festgeschraubt werden, Sattel und Pedale lagen im Karton.
»Ich kann es zusammenbauen«, bot ich ihm an. »Ich habe mal in einer Fahrradwerkstatt gearbeitet.« Allmählich konnte ich ihn wohl mit nichts mehr überraschen. Er holte Maulschlüssel, Imbusschlüssel und Schmieröl und sah zu, wie ich die Teile zusammensetzte, die Bremsen montierte, die Gänge justierte und den Steuersatz einstellte. Die Reifen durfte er aufpumpen.
Als Paul aus seinem Mittagsschlaf erwachte, führte Philippe ihn in die Einfahrt, in der wir das Fahrrad platziert hatten. Er riss die Augen auf und fuhr mit der Hand über den leuchtend roten Lack. Auf ein Zeichen seines Vaters sprang er auf den Sattel. Ich hatte Tränen in den Augen, machte aber Fotos, so dass es niemand merkte.
Das Fahrrad war beinahe zu groß, und Paul musste erst lernen, wie man die Handbremse betätigte. Doch Radfahren konnte er. Es war nicht der magische Augenblick, in dem ein |169| Kind zum ersten Mal erfolgreich auf einem Fahrrad balanciert, aber wichtig war er trotzdem. Philippes Gesicht spiegelte seine Gefühle wider. Vielleicht dachte er an Pauls Mutter, die diesen Augenblick nicht miterleben konnte.
Möglicherweise würde der ganze Genesungsprozess ein einziges Ausprobieren werden. Niemand konnte vorhersagen, wie ein Kind auf ein neues Leben reagierte. Dennoch schien ein glänzendes neues Fahrrad wunderbar geeignet, um ein Loch im Leben eines kleinen Jungen auszufüllen.
Vermutlich hatten wir damit auch Pauls Angst vor dem Mittagsschlaf für immer vertrieben.
Nach dem Abendessen schauten wir zu dritt
Wallace und Gromit – Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen.
Ich fand den Film irgendwie sonderbar, doch für einen Sechsjährigen war er anscheinend genau richtig, denn Paul schaute begeistert zu, eng an seinen Vater geschmiegt.
Morgen würde ich die Zeichnungen zu Jameson bringen, und Philippe würde mit Paul die neue Schule besichtigen. Mir war unbehaglich zumute. Hier war Paul sicher, und wir konnten am Abend gemütlich Filme ansehen. Hier konnte ich mich als Teil einer Familie fühlen.
Morgen aber würden wir ins wirkliche Leben zurückkehren. Darauf freute ich mich gar nicht.
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Beim Frühstück brachte Paul vor Aufregung über den Besuch in der Schule fast nichts hinunter. Philippe erwies Elises Pfannkuchen auch nicht die nötige Aufmerksamkeit. Vermutlich war er nicht ganz so ruhig, wie er sich gab. Ich war der Ansicht, dass zu viel auf einen kleinen Jungen einprasselte, der seine Mutter verloren hatte und fünf Monate lang gefangen gehalten worden war. Philippe hingegen wollte, dass Paul so bald wie möglich einen geregelten Tagesablauf bekam. Und schließlich war er der Vater. Ich hatte schlecht geschlafen und wollte eine Runde laufen, bevor ich frühstückte und zur Polizeiwache fuhr.
Es war ein klarer Morgen, und Tiger und ich liefen fast vier Kilometer. Laufen wirkt auf mich nicht so beruhigend wie Radfahren, aber danach erscheint das Leben trotzdem leichter. Ich wärmte mir Pfannkuchen und Würstchen in der Küche auf. Elise flatterte umher wie ein fröhlicher Zaunkönig mit Schürze und bereitete einen Obstkuchen vor.
»Ist Paul in Montreal gern zur Schule gegangen?« Ich fragte mich, wie er mit neuen Kindern und neuen Lehrern zurechtkommen würde, die alle Englisch sprachen.
Elise nickte, während sie den Kuchenteig ausrollte. »Ja, sehr gern sogar. Er hatte gute Lehrer und viele Freunde.«
»Sind seine Freunde oft zu Besuch gekommen?«
»Nein. Madame Dumond hatte nicht so gern Kinder im Haus. Zu viel Lärm und Unruhe. Aber ich war oft mit ihm auf dem Spielplatz oder habe ihn zu Freunden gebracht.«
Das kam jetzt überraschend. Als Mutter hätte ich es gern |171| gesehen, wenn die Freunde meines
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