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Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Titel: Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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ganz genau, daß sie nicht hübsch aussieht. Sie sieht aus wie ein Straßenmädchen, was sie auch ist.«
    »Ja, aber …« Moische zuckt die Achseln und wendet seine Aufmerksamkeit der Straße zu. Nach einer Pause sagt er: »Ja, du hast recht. Sie sah wirklich wie ein Straßenmädchen aus. Aber alle Mädchen ihres Alters sehen für mich hübsch aus. Ich weiß, aber … Meine Schwester war gerade in ihrem Alter, als wir ins Lager kamen. Sie war ganz entzückend, meine Schwester. Sehr schüchtern. Sie hat nie … sie hat das Lager nicht überlebt.« Er starrt eine Weile aus dem Fenster. Dann sagt er ruhig: »Ich bin mir nicht mal sicher, daß ich es überlebt habe. Völlig. Du weißt, was ich meine?«
    LaPointe kann nicht wissen, was er meint. Er antwortet nicht. »Ich glaube, das ist der Grund, warum mir alle Mädchen ihres Alters hübsch vorkommen … und verletzlich. Komisch. Mädchen ihres Alters! Wenn sie noch lebte, wäre meine Schwester heute Anfang Fünfzig. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich werde älter, aber sie bleibt für mich immer zwanzig. Du weißt, was ich meine?«
    LaPointe weiß genau, was er meint. Er antwortet nicht.
    Moische schließt die Augen und schüttelt den Kopf. »Ach, ich glaube, ich kann in diesen Erinnerungen nicht zu lange herumstochern, das halt' ich nicht aus. Am besten, man läßt diese Dinge ruhen. Sie sind endgültig ausgetrauert.«
    »Endgültig ausgetrauert? Das klingt aber komisch.«
    »Wieso komisch, Claude? Meinst du, Trauer ist etwas, dessen man sich schämen muß?«
    LaPointe zuckt die Achseln. »Das denk' ich ganz und gar nicht.«
    »Merkwürdig. Natürlich ist Trauer etwas Gutes! Der schlagendste Beweis dafür, daß Gott nicht einfach ein grausames Spiel mit uns treibt, ist, daß er uns die Fähigkeit zu trauern gegeben hat, und zu vergessen. Wenn man verwundet ist – ich meine nicht physisch –, dann beizt Vergessen die Wunde aus und läßt sie verheilen, doch unter der Narbe lauern Groll und Haß und Bitterkeit. Trauern ist, wie wenn man den Eiter aus der Wunde läßt, damit er einen nicht vergiftet. Du verstehst, was ich meine?«
    LaPointe hebt die Handflächen. »Nein, Moische. Tut mir leid, aber ich bin nicht Pater Martin. Diese Art Gespräche …«
    »Aber, Claude, das ist keine Philosophie. Na schön, vielleicht sage ich die Dinge etwas hochgestochen, etwas überspannt, aber worüber ich spreche, ist durchaus konkret. Es ist das Leben, wie es ist, klar und deutlich.«
    »Nicht für mich. Ich verstehe nicht, wovon du sprichst, wenn du sagst, Trauer sei was Gutes. Mit mir hat das nichts zu tun.«
    LaPointe spürt, daß das unfreundlich klingen muß, daß er Moisches offenkundigem Redebedürfnis die Tür versperrt. Dieses Gerede über Trauer aber bereitet ihm Unbehagen.
    Moisches Augen hinter seinen runden Brillengläsern lesen in LaPointes Gesicht. »Ach, so. Na … dann darf ich wenigstens deinen Tee bezahlen. Das erspart mir das Bedauern, dich gelangweilt zu haben. Bedauern! Drei Dinge werden immer verwechselt: Trauer, Reue und Bedauern. Trauer ist ein Geschenk der Götter. Reue ist eine Geißel der Götter. Und Bedauern …? Bedauern ist nichts. Ein Wort, das man in einem Brief schreibt, wenn man einen Auftrag nicht pünktlich ausführen kann.«
    LaPointe schaut aus dem Fenster. Hoffentlich wird Pater Martin recht bald wieder gesund.
    Sie schütteln sich auf dem Gehsteig vor dem russischen Café die Hand. LaPointe will noch einen letzten Gang über die Main machen, bevor er heimgeht. Er muß die Straße zu Bett bringen.
    Noch ehe er die grün-rote Lampe anknipst, spürt er an der Temperatur des Zimmers, am Geruch der stillen Luft die Leere.
    Natürlich wußte er, daß sie fort sein würde, wenn er heute abend heimkäme. Er wußte es, als er neben ihr im Bett lag und den Ouzo roch, den sie getrunken hatte. Er wußte es, als er nach jenem Traum wieder einzuschlafen versuchte … Was war das gewesen? Irgendwas mit Wasser?
    Er macht Kaffee und nimmt sich die Tasse mit in seinen Lehnstuhl. Die Straßenlaternen drunten im Park schütten feuchtgelbes Licht auf die Kiespfade. Manchmal sieht es so aus, als wenn der Schnee nie kommen würde.
    Die Stille im Zimmer ist lastend, quälend. LaPointe redet sich ein, es sei gut so, daß Marie-Louise fort ist. Sie wurde ihm langsam lästig mit ihrem albernen, kurzen Lachen. Er schnieft selbstironisch durch die Nase und langt sich wahllos einen seiner Zolas. Er schlägt den Band auf gut Glück auf und fängt an zu

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