Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
bestimmtes Wort geschrieben wird, da riß er plötzlich die Seite aus dem Wörterbuch und schmiß es an die Wand. Was hilft einem so ein Scheißwörterbuch! Wie kann man rauskriegen, wie sich so ein Scheißwort schreibt, wenn man nicht weiß, wie das Scheißding heißt!
Er saß steif und still hinter seinem Schreibtisch, die Hände so krampfhaft gefaltet, daß die Knöchel weiß wurden. Seine Augen waren böse über die ganze Ungerechtigkeit. Dennoch kriegte er es nicht fertig, sich selber leid zu tun. Er konnte sich nicht bemitleiden. Schließlich hatte er auch um Lucille nicht getrauert.
Er löste sich von der Nähe des Todes, indem er es einfach als Tatsache hinnahm. Nicht als wirkliche Tatsache wie das Nahen des Herbstes. Eher wie … daß eine Meile soundsoviel Fuß hat. Man kann an dieser Zahl nichts ändern. Man kann es auch nicht beklagen. Es ist eben eine Tatsache.
Mit viel Geduld klebte er die herausgerissene Seite wieder in das Wörterbuch.
LaPointe zieht die Strippe des Deckenlichts im Bad und geht ins Schlafzimmer. Die Federn knarren, als er sich auf den Rücken legt und zur Zimmerdecke emporschaut, die milde im Laternenlicht erglüht.
Seine Atemzüge werden tiefer, und er ertappt sich dabei, wie er verschwommen über das Problem des ramponierten Wasserschlauchs nachdenkt. Letzten Sonntagvormittag hatte er sich faul in seinem Lehnstuhl am Fenster geräkelt und ›La Presse‹ gelesen. Er fand einen Artikel darüber, was man alles im Hause mit einem alten Gartenschlauch machen könne. Er hat ein Haus; ein Traumhaus in Laval, wo er mit Lucille und den beiden Mädchen wohnt. Immer, wenn er an Geschäften vorbeikommt, die Gartengeräte führen, träumt er von der Arbeit in seinem Garten. Vor ein paar Jahren las er im Beiblatt der Zeitung einen Bericht über ›Fünfzehn Dinge, die Sie zur Wertsteigerung Ihres Hauses tun können‹. Nach diesen Angaben hat er einen Fliesenhof angelegt. Der Hof kommt oft in seinen Halbträumen kurz vor dem Einduseln vor. Er und Lucille trinken Limonade unter einem Sonnenschirm, den er mal im Schaufenster eines Eisenwarengeschäfts gesehen hat. – Räumungsverkauf!!! Bis zu zwei Drittel billiger!!! Die Mädchen sind irgendwohin, und sie haben endlich mal das Haus für sich. Manchmal sind die Mädchen in seiner Phantasie Kinder, manchmal Teenager, manchmal sogar schon verheiratet und haben selber Kinder. In den ersten Jahren nach Lucilles Tod wechselten Zahl und Geschlecht ihrer Kinder, schließlich aber pendelte es sich bei zwei Mädchen mit einem Altersunterschied von drei Jahren ein. Die erste hübsch, die andere klug. Nicht, daß die Hübsche nur ein Dummchen wäre, aber …
Er dreht sich auf die andere Seite, um endgültig einzuschlafen. Die Federn knarren. Auch als das Bett noch neu war, hatte es gekracht und geknarrt. Anfangs hatte Lucille bei dem Geräusch stets aufgehorcht und sich geniert. Später aber kicherte sie immer leise bei der Vorstellung, die Nachbarn könnten an der Wand lauschen, entrüstet über das, was da so alles vor sich ging.
3
Das Telefon klingelt.
Halb dringt das Schrillen in die Wirrsal eines Traums, halb füllt es scharf und schneidend den dunklen Raum.
Das Telefon klingelt von neuem.
Er schwingt sich aus dem Bett und tastet sich ins dunkle Wohnzimmer. Der Flur ist eisig.
Das Telefon kli –
»Ja! LaPointe.«
»Entschuldigung, Lieutenant.« Die Stimme klingt jung. »Ich wecke Sie höchst ungern, aber –«
»Macht nichts. Was ist los?«
»In Ihrem Revier ist ein Mann getötet worden.« Das Französisch des Anrufers ist tadellos, hat aber einen kontinentalen Akzent. Der Mann ist ein Anglokanadier.
»Ermordet?« fragt LaPointe. Dumme Frage. Als ob man ihn wegen eines Autounfalls anrufen würde. Er ist noch nicht ganz wach.
»Ja. Erstochen.«
»Wo?«
»Kleine Seitengasse nahe Rue Lozeau Ecke St. Dominique. Das ist direkt gegenüber –«
»Ich weiß, wo es ist. Wann?«
»Bitte?«
»Wann ist es passiert?«
»Ich weiß nicht. Ich bin gerade erst mit Kommissar Gaspard gekommen. Wir bekamen die Meldung von einem Streifenwagen. Der Kommissar sagte, ich soll Sie anrufen.«
»In Ordnung. Zehn Minuten.« LaPointe hängt auf.
Er zieht sich rasch an, mit fliegenden Händen. Als er gehen will, fällt ihm ein, daß er den Papiersack mit dem Abfall runterbringen muß. Bevor die Tonnen geleert werden, ist er bestimmt nicht zurück.
Es ist halb vier, die Zeit, wo es am kältesten ist. Wie bei diesem Sauwetter üblich, ist die
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