Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
auf das Becken und schaut in den Spiegel. Er ertappt sich dabei, wie er seine massige Brust mit der dicken, leicht angegrauten Haarmatte betrachtet. Unterhalb der Rippen kann er, kaum wahrnehmbar, sein Herz schlagen sehen. Er beobachtet den Schlag mit unsicherer Faszination. Darin ist es. Genau da.
Daran wird er sterben, genau daran.
Der tüchtige, junge jüdische Arzt mit der kultivierten Stimme hatte ihm mit mechanischer Offenheit gesagt, daß er noch Glück habe, gewissermaßen.
Inoperable Arterienerweiterung.
So etwas wie ein Ballon, hatte ihm der Doktor erklärt, und zu nahe am Herzen und zu stark geschwollen, um operiert werden zu können. Es wäre ein Wunder, daß er die Kugel überlebt habe, die seine Hauptschlagader gestreift. Er hatte wirklich Glück gehabt. Die Narbe hatte ganz gut gehalten, und zwölf Jahre lang hatte er keine Beschwerden gehabt. So gesehen hatte er Glück. Als er vor dem jungen Arzt saß und seiner ruhigen, vertrauenerweckenden Stimme lauschte, mußte LaPointe an die gelbe Katze mit der angehobenen Pfote denken.
Der Doktor hatte schon viele solche Situationen bewältigt. Er war stolz darauf, wie gut er mit so was fertig wurde. Sagen, wie's ist, und Mut machen. Sobald ein Arzt eine Spur von Gefühl erkennen läßt, kann es passieren, daß er mit der Sprechzeit bis zu einer halben Stunde ins Rutschen kommt. »In Fällen wie diesem, wo ein Mann keine Familie hat, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ihm alles so klar und offen zu sagen, wie ich kann. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß ein Arzt einem reifen Mann gegenüber das Recht hat, ihm irgend etwas zu verschweigen, was ihn von der Ordnung seiner persönlichen Verhältnisse abhalten könnte. Sie wissen, was ich meine, Monsieur Dupont?«
LaPointe hatte einen falschen Namen angegeben und gesagt, er sei früher bei der Armee gewesen und hätte die Verwundung im Krieg erhalten. Jetzt sei er pensioniert.
»Nun, Ihre erste Frage lautet natürlich: Wieviel Zeit bleibt mir noch? Das läßt sich unmöglich sagen, Monsieur Dupont. Sehen Sie, wir Ärzte wissen schließlich auch nicht alles.« Er lächelte bei diesem Eingeständnis. »Es kann morgen sein, es kann aber auch noch ein halbes Jahr dauern, vielleicht sogar ein dreiviertel Jahr. Wer weiß das? Eins steht fest: Es wird so sein.« Der Arzt schnippte leicht mit den Fingern. »Keine Schmerzen, keine Vorboten. Ein Abgang, wie's eigentlich keinen besseren gibt.«
»Ist das wahr?«
»O ja. Um ganz ehrlich zu sein, Monsieur Dupont, so einen Abgang würde ich mir wünschen, wenn meine Zeit gekommen ist. In dieser Hinsicht sind Sie wirklich gut dran.«
Draußen am Empfang saß ein übertrieben aufgekratztes Mädchen in einer modischen Uniform, die bei jeder Bewegung rauschte. Sie bestellte LaPointe für die kommende Woche und gab ihm eine Karte mit dem Termin. Er ging nie wieder hin. Warum auch?
Er lief durch die Straßen. Es war September, Montreals schönster Monat. Kleine Mädchen machten Seilspringen und sangen; Jungen spielten in den engen Straßen Blechdosen-Hockey und verwendeten ihre Energie vornehmlich auf den Streit darüber, wer von ihnen schummelte. Er wünschte sich, er hoffte, etwas Neues, etwas Dramatisches zu empfinden, aber es ging nicht. Er verlor sich in Erinnerungen an seine Kindheit, Erinnerungen, die aus solchen Tiefen kamen, daß er nicht merkte, wie weit er schon gelaufen war.
Der Abend kam, und er war wieder auf der Main. Automatisch plauderte er mit Ladenbesitzern, trank Kaffee in den Cafés, brachte sich in den Schlägerkneipen in Erinnerung. Es kam die Nacht, und er schlenderte, hier und da die Türschlösser kontrollierend, durch die Seitenstraßen.
Am nächsten Morgen wachte er auf, machte sich Kaffee, brachte den Abfall runter und ging ins Büro. Alles kam ihm künstlich vor – nicht, weil die Dinge anders geworden, sondern weil sie gleichgeblieben waren. Er war verblüfft, wie normal alles war, ein bißchen verwirrt wie ein Mann, der im Dunkeln eine Treppe runtergeht und unverhofft auf den Boden tritt, wo er noch eine letzte Stufe vermutet hatte.
Und doch hatte er sich gefragt, was mit ihm los sei, ehe er zum Doktor ging. Ein paar Monate schon hatte er dieses Brausen im Blut, dieses Ziehen in den Oberarmen und der Brust, diese stechenden kleinen Schmerzen beim Ein- und Ausatmen.
Am späten Vormittag dieses ersten Tages danach bekam er einen Wutanfall. Er tippte an einem schon seit langem fälligen Bericht und sah gerade nach, wie ein
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