Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
her, es tut ihr leid, um sie beide. Zwei junge Männer lümmeln sich gegen ein Fenster, in lässiger Haltung, die ausdrücken soll, daß ihnen dieses Gebäude, dieses Gericht, diese Gesetze nicht imponieren. Doch immer, wenn die Tür zum Gerichtssaal aufgeht, schauen sie erwartungsvoll und ängstlich hinüber. Ein paar Huren sind da, Opfer einer Straßenrazzia irgendwo. Eine erzählt gerade aufgeregt eine Geschichte, eine andere kratzt sich mit dem Daumen unter ihrem Büstenhalter. Ein Mädchen Ende Zwanzig, mager und hochschwanger, kaut nervös auf einer Haarsträhne. Ein alter Mann wippt in seiner Qual vor und zurück und reibt sich mit den Händen die Oberschenkel. Es ist sein einziger Sohn, sein einziger Junge. Blutjunge Anwälte in fliegenden, staubig-schwarzen Roben, die Stirn wichtigtuerisch in Falten gelegt, staksen steifbeinig eilig durch die Menge, als ob sie Wichtiges zu tun und keine Zeit zu verlieren hätten.
LaPointe sieht sich automatisch nach bekannten Gesichtern um, dann tritt er in einen der großen, klapperigen Aufzüge. Zwei junge Kriminalbeamte murmeln Grußworte; er nickt und brummt. Im zweiten Stock steigt er aus und geht den grauen Korridor hinunter, vorbei an alten Heizkörpern, aus denen Dampf zischt, vorbei an immer den gleichen Türen mit Füllungen aus geriffeltem Glas. Sein Schlüssel schließt heute nicht. Er brummelt wütend vor sich hin, dann geht die Tür von selber auf. Sie war überhaupt nicht abgeschlossen.
»Guten Morgen, Sir.«
Oh, Scheiße, ja. Gaspards Joan. LaPointe hatte ihn total vergessen. Wie war gleich der Name? Guttmann? LaPointe stellt fest, daß Guttmann bereits eingezogen ist und es sich auf einem Stuhl mit gerader Lehne an einem Tischchen in der Ecke bequem gemacht hat. Er brummt so was wie einen Gruß, während er seinen Mantel an einen hölzernen Garderobenständer hängt. Er läßt sich in seinen Drehstuhl fallen und fängt an, im Kasten mit dem Posteingang zu stöbern.
»Sir?«
»Hm-m.«
»Kommissar Gaspards Bericht liegt auf Ihrem Tisch. Und auch der Bericht vom gerichtsmedizinischen Labor.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein, Sir. Er ist an Sie adressiert.«
LaPointe geht wie gewöhnlich den Frühbericht durch. »Lesen Sie ihn«, sagt er, ohne aufzublicken.
Guttmann kommt es eigenartig vor, daß sich der Lieutenant für den Bericht nicht zu interessieren scheint. Er öffnet die dicke, braune Postmappe, indem er die Schnur von dem Plastikknopf abwickelt. »Sie müssen abzeichnen, als Empfangsbestätigung.«
»Zeichnen Sie es ab.«
»Aber, Sir …«
»Zeichnen Sie's ab!« Diese Abzeichnerei zirkulierender Mappen gehört zu dem bürokratischen Kleinkram, der das in ständiger Umorganisierung befindliche Department nur noch mehr aufhält. LaPointe hat es sich zur Gewohnheit gemacht, sich über alle diese Vorschriften hinwegzusetzen.
Was ist das? Eine blaue Memo-Karte vom Büro des Chefs. Nun schau einer diese formelle Scheiße an:
Von: Commissioner Resnais.
An: Lieutenant Claude LaPointe.
Betrifft: Besprechung 21. November vormittags
Inhalt: Ich möchte Sie sprechen, sobald Sie da sind.
Resnais
(diktiert, aber nicht unterschrieben)
LaPointe weiß, was Resnais will. Es wird sich um den Fall Dieudonné handeln. Dieser wieselige kleine Scheißhaufen von Rechtsanwalt droht mit einer Klage nach § 217 wegen tätlicher Beleidigung, weil LaPointe seinen Klienten geohrfeigt hat. Wir müssen die Bürgerrechte des Verbrechers wahren! O ja! Und was ist mit der alten Frau, der jener Dieudonné durch die Kehle geschossen hat? Was ist mit ihr, die durch dieses Loch ihren letzten Schnaufer feucht und pfeifend ausgehechelt hat?
LaPointe schiebt die Memo-Karte mit einem Grunzen beiseite. Guttmann blickt von dem Bericht über den jungen Mann, den sie in der Nebenstraße gefunden haben, auf.
»Sir? Ist was?«
»Lesen Sie nur den Bericht.« Er muß müde sein heute früh. Selbst das tadellose Kontinental-Französisch dieses Jungen stößt ihm auf. Und wieviel Platz der in dem Büro einnimmt, verdammt noch mal! LaPointe hat sich gestern abend gar nicht klargemacht, wie groß der Junge ist. 185, 190; wiegt so seine 105 Kilo. Und die Art, wie der sich bemüht, so wenig Platz wie möglich hinter dem Tischchen wegzunehmen, läßt ihn noch größer und klobiger erscheinen. Das kann ja nicht gutgehen. Er wird ihn sobald wie möglich wieder Gaspard überstellen müssen.
LaPointe schiebt den Papierkram und die Memos
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