Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
darüber nachgedacht. Es riecht nach Chemikalien, Bohnerwachs, der Farbe der Heizkörper, nach staubiger Luft. So roch es auch im St.-Joseph-Heim, in das er gesteckt wurde, als die Lungenentzündung seine Mutter dahingerafft hatte. (In Trois Rivières hieß das nicht eine Lungenentzündung, es war die Lungenentzündung. Und sie brachte seine Mutter nicht um: Sie raffte sie dahin.)
Die Gerüche im St.-Joseph-Heim: Bohnerwachs, heiße Heizkörper, nasses Haar, nasse Wolle, Schmierseife, Staub und der beißende Geruch der Tinte, die an der Innenseite der Tintenfässer angetrocknet ist.
Tintenfaß. Das schräg-steife Kratzen der Feder über das Papier. Du schreibst das hundertmal ab, tadellos und ohne Fehler. Das wird dich lehren, hier zu träumen. Eine Sekunde schweifen die Gedanken von der Übung ab, und schon bohrt sich die Federspitze beim Aufwärtsstrich in das billige Papier. Ein Tintenklecks, und du mußt noch mal von vorn anfangen. Dabei kannst du noch von Glück sagen, daß Bruder Benedikt nicht die moue bei dir gefunden hat. Dafür gäbe es nämlich etwas viel Schlimmeres als hundert Zeilen. Dafür bekämst du eine tranche.
Moue. Man macht eine moue, indem man Brot in eine kleine Blechdose preßt und es mit einem bißchen Wasser und Spucke naß macht. In ein, zwei Tagen fängt es an, süß zu schmecken. Es ist das Standardkonfekt der Jungen im Heim und wird heimlich während der Unterrichtsstunden gekaut oder gegen Vergünstigungen eingetauscht oder als Preis für ›Fingerspiele‹ im Schlafsaal ausgesetzt, wenn das Licht aus ist. Oder es wird den großen Jungen geschenkt, damit sie einen nicht verdreschen. Weil das Brot aus der Vorratskammer gestohlen wird, ist moue im Heim verboten, und wenn es bei einem gefunden wird, bekommt man eine tranche. Man kann auch für andere Sünden tranches bekommen. Wenn man sich prügelt, beim Antreten schwatzt, wenn man freche Antworten gibt. Hat man alle seine tranches nicht bis zum Ende der Woche abgearbeitet, bekommt man am Sonntag nichts zu essen.
Eine tranche ist ein Aufenthalt von fünfzehn Minuten in der Kapelle, die die Jungen die ›Ruhmeshöhle‹ nennen, und wo man vor der Gipsmadonna kniet, die Arme wie ein Kreuz seitlich wegstreckt. Die Aufsicht führt der alte Bruder Jean, der offenbar nichts anderes zu tun hat, als in der zweiten Reihe der Ruhmeshöhle zu sitzen und die Strafen für die Jungen zu überwachen. Da kniest du also, die Arme weggestreckt. Fünf Minuten lang ist das nicht schwer. Gegen Ende der ersten fünfzehn Minuten sind dir die Arme wie Blei, deine Hände kommen dir riesig groß vor, und deine Schultermuskeln zittern vor Anstrengung. Auf eine zweite tranche solltest du's nicht ankommen lassen. Alles unterhalb der Fünfzehn-Minuten-Grenze zählt nicht. Du kannst vierzehn Minuten runterreißen, bevor dir die Arme wegrutschen, und dir ist, als hättest du noch gar nicht angefangen. Zum Teufel! Und jetzt: auf ein neues. Bring die gottverdammte Sache hinter dich! Wenn du die zweite Tranche halb hinter dir hast, weißt du, du schaffst es nicht. Du kneifst die Augen zusammen und knirschst mit den Zähnen. Alle sagen, Bruder Jean schummele, er mache die zweite Portion länger als die erste. Du ballst die Fäuste und kämpfst gegen die Taubheit in deinen Schultern an. Doch unausweichlich sacken dir die Arme ab. »Hoch, hoch!« sagt Bruder Jean milde. Schmerzverachtend ziehst du die Arme wieder hoch. Du versuchst, nicht an den Schmerz zu denken. Du starrst der Gipsjungfrau ins Gesicht, die da so still und so rein mit leicht schielenden Augen und dem blöden Loch in der Backe vor dir steht! Die Hände fallen dir runter und klatschen an die Beine, und vor Schmerz stöhnst du. Bruder Jeans Stimme ist weich und matt: »LaPointe. Eine tranche.«
Jedesmal, wenn er im Untergeschoß aus dem Fahrstuhl steigt und diese Gerüche atmet, werden LaPointe die Arme schwer.
Sekundenlang führt er dieses Gefühl auf sein Herz, auf die Gefäßerweiterung zurück. Er wartet auf das, was sonst kommt – das Brodeln im Blut, die Beengung, die Lichtexplosionen in den Augen. Als all das ausbleibt, lächelt er vor sich hin und schüttelt den Kopf.
Die Tür zu Dr. Bouviers Büro steht offen. Er spricht mit einem seiner Assistenten, während er eine Liste durchgeht, die er dicht vor sein rechtes Auge hält, das durch eine dicke Linse überdimensional vergrößert erscheint. Das linke Auge verbirgt sich hinter einem blinden, nikotinfarbenen Glas. Es muß ein häßliches Auge
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