Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Eindruck sozialen Verständnisses und moderner Einstellung zu Ursachen und Verhütung von Verbrechen entziehen. Kein gewöhnlicher Polyp, dieser Commissioner. Ein liberaler Intellektueller im Grabenkampf um die Durchsetzung des Rechts im Alltag.
Man kann Resnais aber auch nicht leichthin als politischen Scharlatan abtun. Er hat alle Bücher in seinem Büro wirklich gelesen. Er tut sein Bestes, um die Bedürfnisse der modernen Gesellschaft zu verstehen und sie zu berücksichtigen. Er versteht sich als Liberaler, als Polizist aus Berufung und als Politiker aus innerem Zwang. Resnais ist nicht der Mann, in seinen Untergebenen Hingabe und Zuneigung zu erwecken, und doch genießt er den Respekt der Mehrheit und die Bewunderung vieler jüngerer Chargen.
Wie LaPointe begann Resnais als Revierschutzmann. Dann besuchte er die Abendschule; vervollkommnete sein Englisch; heiratete in eine der herrschenden Anglo-Familien Montreals ein; nahm unbezahlten Urlaub, um seine College-Studien abzuschließen, und machte Karriere mit der Verfolgung delikater Fälle, in die Personen verwickelt waren, die gegen das Licht der Öffentlichkeit abgeschirmt werden mußten. Schließlich nahm er als erster Laufbahnpolizist den traditionell von Zivilisten besetzten Posten eines Commissioners ein. Aus diesem Grunde sieht er sich als Schutzmann für Schutzmänner. Nur wenige ältere Polizeiangehörige teilen seine Ansicht. Zwar ist er jetzt dreißig Jahre bei der Polizei, aber ein richtiger Polizist ist er nie gewesen. Nie hat er einem Zuhälter, den er verachtete, Informationen aus der Nase gezogen. Nie hat er früh um zwei, zum Umfallen müde und in einem nach nasser Wolle stinkenden Mantel, aus gesprungenen Tassen Kaffee getrunken. Nie hat er hinter seiner Wagentüre Deckung suchen müssen, um zurückzuschießen. Er bemerkte seine Personalakte auf Resnais' Schreibtisch, der ansonsten bis auf einen akkuraten Stapel blaßblauer Memo-Karten, einen offenen Notizblock und zwei sorgfältig gespitzte Bleistifte leer ist.
Männer, die so aussehen, als seien sie sehr beschäftigt, können oft nur nicht richtig planen.
Resnais postiert sich vor das vom Boden bis zur Decke reichende Fenster, so daß die Helligkeit des bezogenen Himmels es LaPointe schwermacht, ohne Blinzeln in seine Richtung zu sehen.
»Nun, wie geht es Ihnen, Claude?«
LaPointe muß über den Akzent lächeln. Resnais ist wirklich zweisprachig. Er spricht ein kontinentales Französisch; ein perfektes Englisch, wenn auch mit dem rollenden ›r‹ des Frankophonen, der diesen schwierigen Konsonanten schließlich bewältigt hat; und er kann ihm in ein Joual zurückfallen, so näselnd wie alle Welt hier, wenn er mit einer Gruppe aus Ost-Montreal oder mit älteren frankokanadischen Polizeioffizieren spricht.
»Ich denke, ich halte den Winter noch durch, Commissioner.«
LaPointe nennt ihn nie beim Vornamen.
Resnais lacht. »Aber gewiß doch! Ein unverwüstlicher Mordskerl wie Sie? Natürlich halten Sie durch!« Seine derbe Redensweise hat etwas Falsches und Herablassendes, geradeso wie einer der Jungen. Er hält die Hände hinter dem Rücken und wippt auf den Zehen, eine Gewohnheit, die sich aus dem Umstand ergeben hat, daß er für einen Polizisten etwas zu kurz geraten ist. Er ist dick, aber er hält sich eisern fit durch Spaziergänge mit Nachbarn, durch Schwimmen in seinem exklusiven Sportclub und durch Handball im Polizeisportverein, dem er wie jeder Polizist angehört und wo er Niederlagen, die ihm jüngere Offiziere bereiten, mit guter Miene zum bösen Spiel einzustecken weiß. Seine teuren Anzüge sind auf Taille gearbeitet, er wirkt darin trotz seines glänzenden Schädels mit dem pechschwarzen Haarkranz um zehn Jahre jünger. Seine Höhensonnenbräune verleiht ihm einen leicht rötlichen Schimmer. »Wohnen Sie noch immer an der Esplanade?« fragt er ungezwungen.
»Ja. Wie's in meiner Akte steht«, erwidert LaPointe.
Resnais lacht herzhaft. »Bei Ihnen kann ich wohl mit gar nichts landen, was?« Es stimmt, daß er, bevor er jemanden kommen läßt, gewohnheitsmäßig dessen Personalakte überfliegt, um sein Gedächtnis mit ein, zwei sehr persönlichen Details aufzufrischen -Zahl und Geschlecht der Kinder, Name der Frau, Auszeichnungen oder Medaillen. Er flicht dann diese Informationsfetzen wie beiläufig ein, als kenne er jeden persönlich und erinnere sich an Einzelheiten aus seinem Leben. Irgendwo hat er mal gelesen, daß diesen Trick ein beliebter amerikanischer General im
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