Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
zeigte Estella auch einen Emu-Busch und erklärte, dass dessen Blätter bei Erkältungen sehr wohltuend seien. »Du sie kochen und mit Kängurufett mischen«, sagte sie und zeigte, dass der Brustkorb mit der Paste eingerieben wurde. Estella war fasziniert.Jeden Abend lernte sie ein wenig mehr über Pflanzen und deren Nutzung als Nahrung oder Medizin. Sie erfuhr, welche gegen Erkältungen halfen und welche Wunden und Ekzeme heilten. Die Beziehung zu der Aborigine-Frau, die so wenig mit ihr gemeinsam hatte, schien sich fast zu einer Freundschaft zu entwickeln.
Zwei Wochen nach dem ersten Brief von Flo erhielt Estella ein weiteres ermutigendes Schreiben von ihrer Tante, doch dieses Mal waren die Scheidungspapiere beigelegt. Obwohl sie darauf vorbereitet gewesen war, legte sie die Unterlagen hastig in eine Schublade, entschlossen, erst wieder einen Blick darauf zu werfen, wenn sie sich allem besser gewachsen fühlte. Mehr als eine Woche später entschied sie, dass man das Unvermeidliche nicht ewig aufschieben konnte. Sie holte die Papiere hervor und setzte ihre Unterschrift darunter. Dann begab sie sich auf einen Spaziergang, obwohl es schon dunkel war. Der Dingo folgte ihr, und Stargazer beobachtete sie von seinem Stall aus. Als sie etwa hundert Meter weit gekommen war, brach sie inmitten der trockenen Büsche hinter dem Haus in Tränen aus. Die lange eingedämmten Gefühle brachen sich Bahn.
»Haben Schmerzen?«
Erschrocken fuhr Estella herum. Sie hatte Mai nicht kommen gehört, doch sie stand direkt hinter ihr. »Nein, Mai, ich bin nur ein bisschen traurig.« Sie putzte sich die Nase und holte tief Atem. Sie wollte gern über ihre Gefühle reden, wusste aber nicht, wie sie es Mai erklären sollte. Die Aborigine sah sie an, und ihre dunklen Augen glänzten im Mondlicht. »Dein Mann dich traurig gemacht?«
Estella erschrak vor so viel Hellsicht. »Ich vermisse das Leben, das wir zusammen geführt haben, Mai, aber das ist für immer vorbei.« Sie hatte nicht erwartet, dass es ihr so schwer fallen würde, loszulassen – trotz allem, was James ihr angetan hatte.
Mai nickte. »Er schlechter Mann ...«
Estella war nicht sicher, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. Doch sie hatte in den vergangenen Wochen erkannt, dass Mai eine für ihr Alter sehr ungewöhnliche Weisheit besaß.
»Er war kein guter Mann, Mai. Er hat mich wegen einer anderen Frau verlassen.«
»Dann du schneiden ihm seinen boom-bera ab«, meinte Mai trocken.
Estella musste plötzlich herzlich lachen. Sie sah Mai in der Dunkelheit lächeln. »Du und dein Kind, ihr machen gut. Du starke Frau!«
Estella blickte sie überrascht an. »Woher weißt du von dem Baby? Hat Kylie es dir erzählt?«
»Nein!« Mai lächelte wieder und ging dann zurück zu ihrem Lager, wo Binnie friedlich schlief. Sie war noch immer wachsam wegen des Dingo.
Eine Zeit lang stand Estella nur da und blickte Mai nach, wie diese in der Dunkelheit verschwand. Sie wusste selbst nicht, warum, doch sie glaubte Mai, dass Kylie nichts von dem Kind erzählt hatte. Estella vertraute Kylie – und Mai überraschte sie jeden Tag mehr. Sie musste daran denken, dass sie die Aborigine bei ihrer ersten Begegnung für verrückt gehalten hatte. Das war ein gründlicher Irrtum gewesen! Allmählich begriff Estella, was ihren Vater so sehr an den Aborigines fasziniert hatte: Sie besaßen eine Weisheit, die Europäer niemals erlangen würden, und sie waren eins mit dem Land, das sie umgab. In einer Wüste, die ein Weißer als endlose Ödnis empfand, sahen sie Schönheit und fanden Nahrung und Wasser im Überfluss.
In den letzten drei Wochen hatte Charlie mehrere Anrufe aus England erhalten, den ersten von einer sehr verlegenen Flo. Sie war völlig außer sich, weil Caroline und Marcus James von dem Kind erzählt hatten, das Estella erwartete. Die anderen Anrufe kamen von Caroline. Als sie Charlie aufgeforderthatte, Estella ans Telefon zu holen, hatte er behauptet, die Verbindung sei schlecht, und er könne sie nicht verstehen; dann hatte er aufgelegt. Als Caroline erneut anrief und ihn beschuldigte, sie belogen zu haben, kam es zu einem heftig Streit. Caroline hatte Charlie mit gerichtlichen Schritten gedroht, doch er hatte nur darüber gelacht. Er hatte sich auch weiterhin geweigert, Estella an den Apparat zu holen oder irgendwelche Botschaften auszurichten, da Estella »nicht in bester Verfassung« sei, wie er sich ausdrückte.
Eine Woche später hatte Caroline noch einmal angerufen und
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